museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2004

Lob und Heilung des Zufalls

15.08.2004

Den Zufall zu leugnen halte ich für ein großes Missverständnis. Ohne den Zufall wäre es wahrscheinlich nicht einmal zur Entstehung des Lebens gekommen, geschweige zu seiner Weiterentwicklung. Die Tendenz qualitativ unterschiedlicher Elemente, sich durch Aufnahme oder Abgabe von Energie zu verbinden, wodurch nach außen hin neue Qualitäten entstehen, ist in der Materie angelegt. Aber immer musste etwas Zufälliges geschehen, um die vorhandene Ordnung zu stören. So ist der Zufall das eigentlich schöpferische Element der Evolution. Hunderte von Millionen Jahren dauerte die genetischen Gefangenschaft des nur immer wieder sich selbst durch Zellteilung reproduzierenden Einzellers, bis es zur geschlechtlichen Vermehrung von Arten kam, ohne dass die Einzeller deshalb aufgehört hätten zu existieren. Es war eben nur eine neue Linie der Evolution entstanden, die den Zufall durch Erfindung eines Genpools instrumentalisiert hatte. Nun konnten sich die Gene ungeplant mischen, nicht nur durch die Wahl des Geschlechtspartners, sondern schon in der Meiose, der Reifungsteilung, durch die bereits im Zellkern des einzelnen Individuums die elterlichen Gene immer wieder neu zusammengestellt werden, weshalb auch Geschwister merklich verschieden sind, von eineiigen Mehrlingen abgesehen. Und letztlich ist durch Zufall aus mehreren frühen Hominidenarten, die über lange Zeiträume unverändert und zum Teil nebeneinander existierten, die eine übrig geblieben, die durch einen glücklichen Umstand ihre geistigen Fähigkeiten entwickelte und die diese nur weiter entwickeln kann, wenn sie ganz undoktrinär offen bleibt

für alles, was da auch "zufällig" noch auf sie zukommen kann. Darum ist der Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft, die alles durch transzendente Gesetze auf ewig festgelegt sehen, so überlebenswichtig.

Die von den Gegner der offenen Gesellschaft gepflegte Annahme, ohne ein schon ewig existierendes Ziel der Geschichte – die menschliche Seligkeit, die klassenlose Gesellschaft oder der Weg des absoluten Geistes zu sich selbst – wäre diese sinnlos und ohne ein solch finales Ziel könne es keine verbindlichen moralischen Gebote geben, überzeugt eben nur jene, die eigene geistige Anstrengungen scheuen. Doch gewinnt der Mensch nicht sehr viel mehr Würde, wenn er fähig ist, seinem Leben selbst Sinn zu geben und somit das als sinnlos empfundene Zufällige zu heilen, in einem weiteren selbstschöpferischen Akt der Evolution? Freilich, eines gewissen Maßes an Weisheit bedarf es dazu schon. Vernünftige Ziele undoktrinär zu setzen, um das Leben sowie die Freiheit und Würde des Menschens zu entwickeln, sehe ich als eine immerwährende Aufgabe an.

 

Zum Weiterlesen:
"Die Hervorbringung des Menschlichen. Texte zur Biologie, Evolution und Ethik" in Abteilung III von

http://www.helmut-hille.de/biologie.html

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