museumsart Kolumne

Helmut Hille
Aphorismen + Sentenzen 2005

Durch was wird ein Urteil gerecht? I

15.07.2005

Das Bildnis der römischen Göttin Justitia, deren Augen verbunden sind, die in der linken Hand die Waage, in der rechten das Schwert hält, verkörpert das, was die Gerechtigkeit ausmacht. Und was macht die Gerechtigkeit aus? Durch was wird ein Urteil gerecht? Da ist einmal der Wissensgewinn durch das Abwägen der be- und entlastenden Beweise und Aussagen der Beweisaufnahme, sodann das Abwägen von Schuld und Recht anhand der dem Richter bekannten Gesetzeslage, dessen Ergebnis ein gerechtes Urteil zu sein hat. Und wie macht die Göttin das? Sie macht es mit verbundenen Augen – also blind! Das Urteilen ist also ein rein geistiger Vorgang, der durch das Abwägen des relevanten Wissens ein Ergebnis gewinnt. So steht Justitia nicht für eine absolute Wahrheit des Urteils, sondern für eine Wahrheit, die zu erkennen dem Menschen anhand seines Wissens möglich ist.

Auch der Sachverständige, der vom Gericht vereidigt wird, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, ist nicht im Besitz einer absoluten Wahrheit, sondern er macht seine Aussagen bestenfalls auf Grund des letzten Standes der Erkenntnisse seines Fachs. Das genügt dem Gericht in seiner Weisheit, d. h. im Wissen um die Grenzen menschlichen Wissens, mit denen es täglich selbst zu kämpfen hat. So steht Justitia letztlich für die menschliche Urteilsfähigkeit überhaupt, was die lange und anhaltende Tradition des positiven Rechts zwanglos erklärt. Jeder Wahrheitstheoretiker sollte diese lange Tradition und das bekannte Bildnis der Justitia bedenken. Sonst ist er nicht weise, d. h. wissend um die Grenzen menschlichen Wissens und Erkennens. Wer glaubt, er urteile unbefangen ohne verbundene Augen auf die Dinge sehend, über die er urteilt, unterliegt immer schon einer Illusion.

Fortsetzung folgt.

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