museumsart Kolumne
Helmut Hille
Aphorismen + Sentenzen 2005
Der Ursprung von Raum und Zeit
15.12.2005
Physiker sagen heute so salopp, Raum und Zeit wären beim Urknall "entstanden", als handle es sich um materielle Dinge wie Teilchen oder Strahlung. Richtig ist, dass komplexe Lebewesen ein raumzeitliches Erleben haben, welches jedoch erst durch die Art der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung entsteht: Die etwas unterschiedlichen Wahrnehmungen der zwei Augen bzw. Ohren werden durch das Gehirn zu einem einzigen Bild bzw. Hörbild verarbeitet, wodurch erst der räumliche Eindruck der Wahrnehmung entsteht.
Aber auch zwei Finger und erst recht die zwei Hände können eine räumliche Wahrnehmung vermitteln und ggf. so Stereosehen und -hören unterstützen. Und alles Gehen ist die Bewältigung und das Erleben von "Raum", wenn sich gerade nichts der Fortbewegung in den Weg stellt.
Ferner hat die Einheit des Augenblicks eine gewisse Dauer, bis ca. 3 Sekunden, in der Eindrücke gesammelt, überlappt und dabei zu einem einzigen Eindruck verbunden werden, der uns dann ausreichend schnelle Veränderungen als "Bewegung" signalisiert. Auf diese Weise haben wir ein einheitliches raumzeitliches Erleben, darauf abgestimmt, ein Überleben unter Bedrohungen zu ermöglichen.
Doch sind wir deshalb berechtigt zu sagen, dass Raum und Zeit real sind oder dass es gar eine Raumzeit gibt? Haben wir denn nicht gerade erst bemerkt, was das Gehirn alles leisten muss, um den raumzeitlichen Eindruck überhaupt erzeugen zu können? Ohne zwei Augen und Ohren und ohne die Vergleichsmöglichkeit nacheinander eintreffender Daten durch das Erinnerungsvermögen wüssten wir nichts von Raum,
Zeit und Bewegung, und hätten wir keine Wahrnehmung von Worten, Sätzen und Melodien, weil alle Laute und Zeichen nur unverbunden hintereinander registriert werden würden. Erst ihre Verbindung durch den Wahrnehmungsapparat schafft jene Welt, die wir kennen!
Die Entstehung raumzeitlichen Erlebens im Kopf können wir überprüfen, und sie wurde von Hirnforschern auch geprüft und gemessen. Und Schädigungen des Gehirns zeigen, wie abhängig diese Art der Wahrnehmung von einzelnen Hirnregionen ist. Daher halte ich die Realitätsbehauptung einer Raumzeit für Metaphysik - jenseits der Erfahrung liegend, die zwar hinterfragbar, aber nicht hintergehbar ist.
Die genannten Mechanismen der Wahrnehmung machen Techniker sich zu nutze, indem sie zum Beispiel durch schnellen Wechsel von (Stand-)Bildern einen Bewegungseindruck erzeugen, der Grundlage von Film und Fernsehen ist, wobei die einzige echte Bewegung im Film, der Bildwechsel, so gehalten wird, dass er gerade nicht wahrgenommen werden kann. Oder indem sie zweidimensionale Bilder so gestalten, dass im Gehirn dreidimensionale Bilder entstehen können. Auch diese Techniken widerlegen die naive Behauptung, dass die Wahrnehmung ein bloßer Spiegel der Außenwelt sei und nicht ein Konstrukt des Gehirns.
Das Gehirn hat in der Evolution gelernt weise zu sein, das heißt mit seinem Nichtwissen in zweckmäßiger Weise umgehen zu können. Doch viele von uns haben noch nicht gelernt, seine Weisheit zu erkennen, und reden töricht so daher, als brauchten und gebrauchten sie kein Gehirn.