museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2006
Autismus als Forschungsgebiet I
15.06.2006
1. Die Asperger-Autisten
Einerseits hat das Hirn von Haus aus kein Wissen, andererseits ist es ein rational arbeitendes Organ, das uns in der Jugend Warum- und später Sinnfragen stellen lässt. Dazu sammelt es die durch die Sinne hereinkommenden Daten und verarbeitet sie zu einem plausiblen Weltbild. Aber es speichert auch das körperliche Wissen um eingeübtes Verhalten. Weltbild und Verhaltensweisen sind uns als Erwachsene jedoch so selbstverständlich, dass wir gar nicht bemerken, was das Hirn trotz seines prinzipiellen Nichtwissens Großartiges leistet. Erst wenn Gehirnregionen oder neuronale Verbindungen ausfallen, wird man sich dieser Leistungen bewusst, weshalb die Gehirnforschung sich vorzugsweise mit solchen Defiziten befasst. Ein ihr immer interessanter werdendes Forschungsgebiet ist der Autismus mancher Menschen, vorzugsweise Männer, die durch Fehlen höherwertiger kognitiver Fähigkeiten gegenüber ihrer Mitwelt isoliert sind. Sie leben abgeschottet wie unter einer Glasglocke, was das gemeinsame Kennzeichen aller Autisten ist. Ansonsten ist ihr Erscheinungsbild sehr individuell. Allen aber fehlt das Selbstverständnis als Grundlage von Empathie und sozialem Verhalten, weshalb sie im Alltag oft versagen.
Dafür besitzen sie systemische Fähigkeiten. Bei entsprechender Begabung flüchten sie sich in die Mathematik, Physik oder Musik – Gebiete, die ihre eigene Logik haben, die ja dem Gehirn angeboren ist. Diese Gruppe von Autisten nennt man "Asperger", nach einem Wiener Kinderarzt, der als Heilpädagoge der Kinderklinik der Universität Wien in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als erster dieses "Syndrom" beschrieb. Die von ihrem Spezialthema besessenen sog. "Genies" sind als Sozialpartner oft eine Katastrophe – wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten, wie der Volksmund weiß. Albert Einstein ist ein typischer "Asperger", mit allen Merkmalen eines solchen. Selbstanalyse in einem seiner Reisetagebücher: "Glasscheibe zwischen Subjekt und anderen Menschen. Unmotiviertes Mißtrauen. Papierene Ersatzwelt." Familiär ein Desaster, in der Physik zwanghaft zur Systematisierung neigend, leugnete er heftig die Rolle des Beobachters und damit des spezifisch Menschlichen in der Wissenschaft, weil es ihm am Selbst- und damit auch an Fremdverständnis mangelte. János Plesch, sein Arzt: "Er lacht, das ist seltsam, auch wenn andere weinen".
Zum Weiterlesen bezüglich Einstein: "Ich bin ein ganz isolierter Mensch..." Einstein als Autist. (Eine Buchbesprechung)
in WEGE DES DENKENS Datei I/B7a Anhang 2 auf http://www.helmut-hille.de