museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2006

Autismus als Forschungsprojekt II

15.07.2006

2. Die Savants

Neben den autistischen "Aspergern" gibt es noch eine andere und weit bemerkenswertere Gruppe mit einem sog. "milden Autismus": die Savants, frz. "die Wissenden", die jedes Buch auswendig hersagen können, das sie einmal gelesen haben. Oder die zu jedem Datum sofort den Wochentag wissen oder jede Primzahl kennen. Oder die Mengen von Gegenständen mit einem Blick zuverlässig zu erfassen vermögen, die also, wie die Asperger, auf Zahlen fixiert sind. Dustin Hoffman hat im Film "Rainman" einen solchen, im Alltag hilflosen Savant großartig gespielt. Seinem noch lebenden Vorbild aus Salt Lake City, Kim Peek, fehlt die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, das Corpus Callosum. Jede Doppelseite eines Sachbuches braucht er sich nur einmal 8 Sekunden lang anzusehen. Er liest die Seiten nicht, sondern prägt sie sich optisch ein und zwar beide Seiten zeitlich parallel mit je einem Auge – und wird trotzdem nie ein Wort vergessen. Daneben kennt er Geschichtsdaten, Busverbindungen, das Straßennetz der USA und Kanada, das Fernsehprogramm, die Telefonvorwahlen und die Postleitzahlen. Seine beispiellosen Fähigkeiten haben ihm den Spitznamen "Kimputer" eingebracht – die Verbindung von "Kim" und "Computer".

Außerdem ist er im Besitz eines absoluten Gehörs, weshalb man ihn in kein Konzert mitnehmen kann, weil er sofort jeden falschen Ton lautstark reklamieren würde. Andere Savants sind wahre Rechenkünstler, obwohl sie nie wirklich rechnen. Sie haben einen unmittelbaren Zugriff auf die Ratio des Gehirns und sehen die Zahlen fertig vor sich. Oder ohne das Musizieren erlernt zu haben, spielen sie alles, was sie jemals gehört haben fehlerfrei oder komponieren sogar selbst – Wunderkinder eben.

Bei Savants und Asperger kommen also die uns sonst unbewussten Fähigkeiten des Gehirns – Daten gewissenhaft zu sammeln und sie rational zu verarbeiten – ungefiltert zum Tragen. Autismus ist keine Krankheit, sondern ein angeborener oder durch Unfall erworbener Gehirndefekt, der daher auch nicht geheilt werden kann. Autisten können bestenfalls lernen, mit ihren Defiziten umzugehen, soweit sie denn einsichtig sind. Aber uns "Normalen" geben sie einen tiefen Einblick in das, von dem wir leben und das wir doch immer noch zu wenig verstehen: das Gehirn.

 


Quelle war die 2006 zuerst von ARTE ausgestrahlte TV-Serie "Expeditionen ins Gehirn"

 

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