museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2009
Über Gerhard Roths Buch
15.10.2009
Vor dem Aufkommen der Gehirnforschung haben sich hauptsächliche Philosophen und gelegentlich auch Ärzte und Dichter Gedanken über das Verhältnis von Erkenntnis und Welt gemacht. Erinnert sei hier an Kants gewaltige Kritiken am Ende des 18. Jahrhunderts. Dabei waren die Philosophen meist ganz unterschiedlicher Meinung, von naiv, über idealistisch bis superkritisch, gleich alle Wahrheitsansprüche ganz ablehnend. Im Gegensatz zu letzteren betrachteten Wissenschaftler, die dem im 19. Jahrhundert aufblühenden Materialismus anhingen, erkenntnistheoretische Überlegungen gleich als Verrat am Materialismus, da sie eine eigenständige Rolle des Geistes leugneten. Ihnen waren die menschlichen Ideen und Probleme nur Abbilder der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch die menschliche Neugier wollte endlich wissen, wie das Gehirn wirklich funktioniert. Durch die bildgebenden Verfahren kam es im 20. Jahrhundert zu großen Fortschritten in der Gehirnforschung. Natürlich hatten diese Forscher schon vor aller Forschung gewissen Meinungen über die Arbeitsweise des Gehirns und/oder sie hingen Ideologien an, die ihre Sicht trübten, auch wenn die Forschungsergebnisse im Einzelnen durchaus brauchbar waren. Das Gehirn ist eben notwendigerweise ein interpretierendes Organ, was auch für das der Gehirnforscher gilt, was sie allzu gern vergessen.
Ein Hirnforscher, der mir besonders ungetrübt von Vorurteilen erscheint, ist Gerhard Roth von der Universität Bremen. Dank seiner Sachlichkeit und Verständlichkeit wird er im TV besonders gern zu Rate gezogen, so dass bei mir der Wunsch aufkam, zumindest eines seiner Bücher zu lesen, nachdem ich zuvor schon etliche Bücher seiner Kollegen auf meiner Homepage WEGE DES DENKENS kritisch besprochen hatte, denn ich verstehe mich als Neurophilosoph, der Ergebnisse der Hirnforschung mit philosophischen Fragestellungen verbindet, möchte ich doch nicht ins Blaue hinein philosophieren.
Eine Gelegenheit, Roth im neuesten Forschungsstand näher kennen zu lernen, war die "vollständig überarbeitete Neuauflage" von 2008 seines Buches "Aus der Sicht des Gehirns", wie sie mir 2009 vom Internetbuchhändler AMAZON empfohlen wurde, der mein Interesse kennt.
Ich muss sagen, dass Roths Ausführungen meine positiven Erwartungen eher noch übertrafen. Beginnend mit einer "kleinen Hirnkunde" nimmt er zu allen Fragen menschlichen Geistes Stellung, soweit das aus der Sicht der Forschung möglich ist. Ein besonderes Anliegen der Neuauflage war ihm die Frage der Willensfreiheit, über die andere Hirnforscher hitzige Debatten ausgelöst hatten, in dem sie die Willensfreiheit bestritten, weil man bemerkt hatte, dass das Unbewusste von sich aus Urteile fällt, bevor diese dem Menschen bewusst werden. Diese Hirnforscher hängen unhinterfragt der Überzeugung an, dass das Urteilen Aufgabe des Bewusstsein sei und spalteten so das Unbewusste vom Menschen ab, ohne dies zu thematisieren. Sie übersahen dabei, dass das Hirn ein von der Evolution herausgebildetes rationales Organ ist, das ständig nach Ursachen und Motiven fragt, um sich die Welt verständlich zu machen. Ich selbst verlasse mich auf seine Arbeitsweise und schreibe in Veröffentlichungen keinen Satz, den das Unbewusste nicht zuvor ausformuliert hat. Doch da ich nicht die Prämissen kenne, aufgrund dessen das Hirn seine Urteile fällt, gehe ich natürlich kritisch mit seinen Antworten um und frage ggf. zurück und warte auf eine neue Antwort.
Roth macht in seinem nicht zu umfangreichen Buch von 243 Seiten der Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp (10 Euro) sehr kenntnisreich verständlich, auf welchen Wegen das Gehirn zu seinen Urteilen kommt und unsere Welt zweckmäßig konstruiert. Ich kann es deshalb jedem empfehlen, der an solchen Fragen interessiert ist und der nicht vor Desillusionen zurückschreckt.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen s. die detaillierte Buchbesprechung in WEGE DES DENKENS auf Datei II/14 "Die Eigen-Mächtigkeit des Gehirns", zusammen mit der Stellungnahme zu einem weiteren Buch von Gerhard Roth: http://www.helmut-hille.de/roth.html
Siehe auch: WEGE DES DENKENS auf http://www.helmut-hille.de