museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2010
Zwei Menschen, die die Welt so noch nicht gesehen hat ...
15.05.2010
und wohl auch nie wieder sehen wird" sagte Nachrichtensprecher Dave Wagner im TV (RTL II), der die autistischen Zwillingsschwestern Flo und Kay Lyman aus New Jersey 13 Jahre lang mit der Kamera begleitete. Sie sind lebendige Parallelcomputer, wissen alles und vergessen nichts. Auf die Frage von Dave "Wie macht ihr das nur" sagten sie lapidar "Ist doch ganz einfach", wie überhaupt ihre Antworten eher beiläufig kommen. Flo und Kay machen alles gemeinsam und sprechen von sich fast immer in der Wir-Form. Die auffällig geistig behinderten eineiigen Zwillinge versuchte ihre Mutter vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Erst als sie 39 Jahre alt waren, wurde die medizinische Diagnose "Autisten mit Savantsyndrom" gestellt. Zuvor glaubte man, dass ihre Mutter eine eiskalte Person wäre, weshalb die beiden sich auf sich selbst zurückgezogen hatten. Doch ihre Mutter war mit den sehr eigenwilligen Zwillingen und zwei weiteren Kindern einfach nur überfordert.
Um mit der ihnen wenig verständlichen Mitwelt zurechtzukommen, müssen Flo (Florence) und Kay (Kathrin) feste Regeln einhalten, die Außenstehende als "geistige Unbeweglichkeit, Besessenheit und Zwänge" erleben. Wendet man sich ihnen jedoch liebevoll zu, sind sie ganz wunderbare sanfte Menschen, glücklich und ausgeglichen, "immer gut drauf", nicht ohne Humor und Selbstironie. "Ich bin ein Apple Computer und Kay der von Microsoft" sagte Flo einmal augenzwinkernd. Dave brachte die Zwillinge zu Darold Treffert in Wisconsin, dem führenden Savantforscher in den USA, der auch Berater bei dem Film "Rain Man" mit Dustin Hoffman war, der die Diagnose bestätigte. "Die Savants stellen ein einmaliges Fenster ins menschliche Gehirn dar. Solange wir das Savantsyndrom nicht verstehen, werden wir niemals verstehen, wie unser Gehirn funktioniert" sagte Treffert schon 2006 in der TV-Sendereihe "Expedition ins Gehirn". Heute denkt man, dass Störungen der für die Kommunikation zuständigen linken Gehirnhälfte durch die rechte Hälfte, in der u.a. das Gedächtnis verortet ist, teilweise kompensiert werden – aber eben vor allem mit rein faktischen Gedächtnisinhalten, während die mangelnde soziale Kompetenz bleibt. Doch können intelligente Autisten lernen, mit diesem Mangel mehr oder weniger geschickt umzugehen. Beheben lässt er sich nicht.
Flo und Kay können sich aber nicht nur alles im Detail merken, wie das Wetter, das Essen oder die Kleidung eines TV-Moderators, sondern können augenblicklich beliebige Daten den Wochentag zuordnen, ein Phänomen, das bei Savants öfters anzutreffen ist. Im CT konnten die Forscher jedoch keinerlei Auffälligkeiten ihrer Gehirne registrieren, was die Zwillinge sehr beruhigte. Nach dem Tod ihrer Eltern übernahm ihre sie liebende jüngere Schwester Jane die Vormundschaft und sie lernten endlich durch sie, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie sangen sogar gemeinsam vor Publikum. Besonders hängen sie aber an dem TV-Moderator Dick Clark und seiner Sendung „Die 100.000 Dollar Pyramide“ von der sie über 20 Jahre lang keine versäumten. Während die Sendung lief, war für sie ihre Welt in Ordnung. Der schönste Tag ihres Lebens war, als Dick Clark sie persönlich zu einer Geburtstagsparty eingeladen hatte und sie sich mit ihm 25 Minuten lang unterhalten konnten. Als später die Sendung abgesetzt wurde, brach für sie eine Welt zusammen, war Clark für sie doch Vaterersatz und persönlicher Erlöser. Er war derjenige, der am längsten in ihrem Leben Bestand hatte, weshalb sie sich wünschen, einmal mit allen Erinnerungsstücken an ihn "in unseren Sarg" begraben zu werden, um mit ihm verbunden zu bleiben. Leider ist inzwischen auch noch die sie beschützende jüngere Schwester verstorben und sie leben nun bei ihrem Bruder und dessen Frau, die jedoch auf Dauer mit den durchgeplanten Alltag der Zwillinge überfordert sind. "Irgendwann wollen wir alleine leben, selbständig" ist der Wunsch der inzwischen 53-jährigen. Doch bis dahin ist für sie noch ein langer und ungewisser Weg. "Aber sie sind Überlebenskünstlerinnen, wahrscheinlich schlauer als wir", sagte der Mann von Jane im TV.
Zum Weiterlesen:
http://www.helmut-hille.de
(WEGE DES DENKENS), hier: Datei II/15 >>Autismus als Forschungsgebiet. Formen des Autismus. Anmerkungen zur Sendereihe "Expedition ins Gehirn"<<
Helmut Hille