museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2010
Geschichte als das Geschichtete
15.08.2010
Ich habe einmal einen Kabarettisten sagen hören, die Geschichte besteht aus den Geschichten, die uns überliefert sind, z.B. die von Cäsar und Kleopatra oder von Napoleon und Josephine. Ja, vielleicht wäre ohne diese Techtelmechtel die europäische Geschichte tatsächlich anders verlaufen, wie ja überhaupt die Liebe eine starke Triebfeder ist. Aber es gibt da noch andere Kräfte, und je nachdem, welcher man zuneigt, wird die Geschichte gesehen. So sind für Theologen Gottes Ratschlüsse die Triebfeder der Geschichte, für idealistische Philosophen sind es die ewigen Ideen, die sich verwirklichen wollen, für Materialisten die ökonomischen Verhältnisse des Kollektivs, die dem Ziel der klassenlosen Gesellschaft zusteuern. Nun haben aber nicht nur wir Menschen eine Geschichte. Mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaftler wuchs immer mehr die Einsicht, dass alles, was existiert, seine Geschichte hat, in der Geologie ist die Geschichte das Geschichtete schlechthin. Und seitdem man die Geschichte des Lebens besser kennt, wird das Alter von geologischen Schichten anhand ihrer Fossilien bestimmt.
Auch das Universum selbst hat seine Geschichte, wie man heute weiß, und ist nicht die einmalige Tat eines Schöpfers in 6 Tagen vor etwas mehr als 6000 Jahren, wie ein frommer Bischof errechnet hatte. Weil die Geologie mit ihren Schichten für jedermann sicht- und nachvollziehbar das Geschichtliche der Erde bezeugt, das man am besten im Grand Canyon des Colorado mit seinen Ablagerungen aus 1,8 Milliarden Erdgeschichte sieht, wurde gerade in einigen Staaten von Nordamerika von christlichen Fundamentalisten neben der Darwinschen Evolutionslehre auch noch die Geologie als Schulfach verboten und ist es vielleicht auch heute noch, wie überhaupt der Fundamentalismus in der Welt zunimmt, weil immer mehr Menschen sich einfache Erklärungen wünschen.
Während die sehr alte und große Familie der Quallen ohne Gehirn auskommt und trotzdem oder gerade deshalb (?) Chancen hat, alle anderen Arten im Meer zu überleben, ging die Geschichte der meisten höheren Arten mit der des Gehirns parallel. Das menschliche Gehirn selbst ist ein Beleg für die Geschichtlichkeit der Lebewesen und ist als ein sehr konservatives Organ entsprechend geschichtet. So gibt es als altes Säugetiergehirn in ihm aufeinander aufbauend ein Stammhirn, ein Kleinhirn, ein Mittel- und Zwischenhirn, welche vorwiegend die Körperfunktionen steuern. Bei den großen Säugetieren und den Primaten, zu denen auch wir gehören, kommt zum Endhirn noch die Großhirnrinde dazu, welche für die besonderen kognitiven Fähigkeiten sorgt. Aber auch die Skelette der Wirbeltiere ebenso wie ihre Gene haben viele Gemeinsamkeiten und bezeugen die geschichtete Geschichtlichkeit des Lebens. Es ist also viel Tier im Mensch oder viel Mensch im Tier, wie der Biologe Hubert Markl sagte. Wollen wir also die Welt, das Leben und die Menschen verstehen, kommen wir nicht ohne die Kenntnis ihrer Geschichte aus. Aber auch der einzelne Mensch wird in seinen Intentionen am besten aus seiner Biografie und Abstammung heraus verstanden oder wie Rilke, sich mit den Bäumen vergleichend, dichtete: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen", wo einer immer die Grundlage des nächsten ist.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen siehe http://www.helmut-hille.de:
WEGE DES DENKENS Text III/2 Die Genese des Lebens und das Wesen des Wissens