museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2010
Alles was Augenschein ist
15.09.2010
In der Jugend lernt man, dass alles verlässlich existiert, was man sehen und anfassen kann. Der Physiker Ernst Mach bestritt deshalb Ende des 19. Jahrhunderts die Existenz von Atomen, weil man sie nicht sehen kann, was inzwischen nicht mehr ganz so stimmt. Dabei kennt die Sprache aus gutem Grund den Begriff des Augenscheins, der eben besagt, dass vieles Schein ist, was wir mit den Augen wahrnehmen. Für Gehirnforscher ist gerade der Augenschein der beste Anlass, die Rolle des Beobachters und damit seines Gehirns näher zu untersuchen. Das beginnt mit dem Farbensehen, das eine Interpretation unterschiedlicher Wellenlängen des Lichts ist, wobei jene Wellenlängen ins Auge gelangen, die von Gegenständen reflektiert werden, also sich gerade nicht mit ihrer Oberfläche verbunden haben. Was uns "blau" erscheint, ist es also gerade nicht, abgesehen davon dass der Farbeindruck sowieso erst im Kopf entsteht. Das spielt jedoch keine Rolle, da das Gehirn in seiner langen Geschichte der Evolution gelernt hat, mit Sinneseindrücken zweckmäßig umzugehen. Sind die Dinge dann wenigstens da, die wir sehen? In der Regel schon, auch wenn wir von Sinnestäuschungen wie einer Fata Morgana wissen. Aber was ist mit einer Distanz, die wir sehen, z.B. zwischen 2 Fahrzeugen, die sich auf der Straße bewegen? Gibt es denn eine Sache Distanz? Aber wir sehen sie doch!
Und das ist im Straßenverkehr sogar sehr wichtig. Was wir sehen, ist aber eine Leistung des Gehirns, das 2 Gegenstände mit dem Begriff der Distanz verknüpft. Wir merken also, dass das Gehirn Eigenschaften an die Dinge herantragen muss, um mit ihnen in tauglicher Weise umgehen zu können. Das beginnt bereits mit dem Sehen der Dinge und Lebewesen selbst. So wie man eine Sprache und Schrift kennen muss, um die Schrift lesen zu können, muss man schon vor dem Sehen wissen, was die optischen Charakteristika von Autos und Kühen sind, um etwas als Auto oder Kuh erkennen zu können. Ein von Geburt an Blinder, dem als Erwachsener das Augenlicht "geschenkt" wird, hat dann zwar Lichteindrücke, aber keine Seheindrücke, weil er nicht weiß, was das ist, was er da sieht. Die Lichteindrücke werden ihn also mehr verwirren als behilflich sein.
Und ist etwas wenigstens "bewegt", wenn wir es als bewegt wahrnehmen, d.h. es zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten antreffen und dies vergleichen, wie z.B den Ort der Sonne im Lauf des Tages? Bewegt sich also die Sonne? Das war ja der große Streit zwischen Astronomen und der Kirche, die sich auf den Sinneseindruck verlassen wollte, weil dies auch die Schreiber der Bibel taten. Zudem konnte Galilei keinen Beweis dafür liefern, dass sich die Erde, d.h. der Beobachter mit ihr bewegt, sondern dass dies nur eine vernünftige Annahme war. Das Problem geht aber noch viel tiefer, denn in Wahrheit haben unsere Sinne nur Momenteindrücke, wissen also gar nichts von Zeit und Bewegung. Erst das Gedächtnis macht aus unzähligen Einzelbildern durch deren Speicherung, Verknüpfung und Überlappung die bewegte und zeitliche Welt, die wir kennen und in der wir uns orientieren, und die uns nicht zuletzt Musik und Sprache und damit unser Menschsein schenkt, hörten wir anderenfalls doch nur einzelne Töne und Laute ohne Zusammenhang.
Unsere kontinuierliche Welt ist also ein sehr komplexes Konstrukt des Gehirns, wobei auch noch erst die Verknüpfung dieser Augenblickseindrücke sie nur im Vergleich zu einem von uns selbst zumeist unbewusst gesetzten Bezug uns als "bewegt" oder "ruhend" erscheinen lassen. Ohne Orte kein Ortswechsel! Es bleibt also die Aufgabe der Vernunft, zwischen Sinneseindruck und objektivem Verhalten zu unterscheiden, was alles jenen nicht gelingt, die sich auf den Augenschein verlassen, weil dies ja so bequem ist oder weil man es sie so gelehrt hat, um keine Rolle des Beobachters, d.h. seines Geistes anerkennen zu müssen, was der ideologische Hintergrund von Machs These war, der jene Gesinnungsgenossen auch heute noch freudig zustimmen, die alles "ganz einfach" = rein materiell (was sie aber nicht sagen) erklärt haben wollen.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen s.
Auf WEGE DES DENKENS Text II/7 "Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung