museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2010

Woher wir von einer Geschwindigkeit wissen

15.09.2010

Um von der Geschwindigkeit eines Objekts zu wissen, benötigen wir als erstes den Begriff der Geschwindigkeit. Das ist keineswegs banal, sondern führt direkt in die inneren Mechanismen unseres Verstehens. Was ist also Geschwindigkeit? Geschwindigkeit ist das Maß des Tempos einer Ortsveränderung, also das Maß des Verhältnisses von Weglänge zur dafür benötigten Zeit.

Es bedarf also einerseits zuvor festgelegter Maße der Länge und der Dauer ("Zeit" genannt) und sie verkörpernder Messmittel, wofür akribisch arbeitende Eichämter sorgen, andererseits benennbarer Orte, um Bewegung und deren Tempo überhaupt wahrnehmen und messen zu können. Einem einzelnem Objekt in einem leeren Weltraum kann also weder Bewegung noch deren Geschwindigkeit zugeordnet werden. Damit sind wir auch schon auf der Seite des Subjekts: der Beobachter muss also zuerst Objekte mit einem Bezugspunkt oder mit einem Bezugssystem, die nicht zum Objekt gehören, geistig verknüpfen, um einen Bewegungseindruck gewinnen zu können. Solche von Vorgaben des Beobachters abhängige Eigenschaften nennt man sekundäre Eigenschaften. Wir haben es hier also mit einer Leistung des Beobachters zu tun, auch wenn durch seine von der Evolution selektierten Mechanismen des Verstehens der Vorgang zumeist ein automatischer und unbewusster ist, der im Überlebenskampf ein schnelles Reagieren ermöglicht.

Jedoch ist damit die Rolle des Beobachters keineswegs vollständig beschrieben. Hier hilft uns der Begriff des Augenblicks weiter. In einem wirklichen kurzen Augenblick können wir weder die Bewegung eines Objekts sehen, geschweige seine Geschwindigkeit beurteilen, sondern wir sehen dabei nur das Objekt selbst und ggf. den von uns dazugegebenen momentanen Ort. Erst wenn wir die Lage des Objekts zu verschiedenen Zeitpunkten miteinander vergleichen, nehmen wir eine Ortsveränderung wahr – wenn denn eine erfolgt ist – und können dann anhand einer festgelegten Strecke mit Hilfe einer zuverlässigen Uhr deren Geschwindigkeit ermitteln. Im Alltag dagegen werden vom Wahrnehmungsapparat momentane Eindrücke gesammelt, verknüpft und miteinander verglichen, wodurch spontan ein Bewegungseindruck gegeben sein kann, auf den wir sofort reagieren können, z.B. wenn sich Autos oder Menschen uns nähern. Ohne diesen Mechanismus könnten wir nicht lange überleben.

Wahrnehmung ist also immer auf das Überleben des Subjekts abgestellt und nicht auf den Gewinn einer objektiven, im Alltag nutzlosen Wahrheit.

Wer sein Verstehen nicht versteht, versteht letztlich gar nichts. Nun gibt es auch Objekte, die sich real "von sich aus" bewegen, ob sie nun beobachtet werden oder nicht, z.B. Lebewesen. Wenn Menschen gehen, bewegen sie im Vergleich zu ihrem Rumpf als Bezugssystem ihre Füße und Beine und dazu gegenläufig zumeist auch ihre Arme, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Doch um auch diese Bewegungen wahrnehmen zu können, bedarf es genauso der zuvor geschilderten Mechanismen, obgleich die Bewegung ja real ist. Die Wahrnehmung macht keinen Unterschied zwischen wahren und scheinbaren Bewegungen, z.B. der Sonne während des Tages über das Firmament, weshalb die Menschen geschworen haben, dass sich die Sonne "bewegt",

obgleich sie ja, im Gegensatz zum Lebendigen, keinerlei Bewegungsorgane und auch keinen Bewegungswillen hat, es sei denn man ist Animist und sieht im Geiste alles voller Götter. Objektiv gesehen verharrt die Sonne, wie jeder unbelebte Körper, von sich aus ort- und zeitlos nur in ihrem Zustand (Newton, 1. Axiom), während die Erde sich echt um ihre Achse dreht (Winkelbeschleunigung), den Drehzustand erhaltend, der ihr bei ihrer Entstehung verliehen wurde. Diese Unterscheidung von realen und scheinbaren Bewegungen ist die Grundlage der ganzen Mechanik und als solche ein Akt der Vernunft und des Sachverstands.

Wo nun die Rolle des Beobachters bestritten oder einfach ignoriert wird, aus welchen Gründen auch immer, wird man natürlich auch nicht zwischen wahren und scheinbaren "Bewegungen" unterscheiden, schon weil man dort den Begriff des Scheinbaren nicht kennt, sondern alles für echt hält. Dadurch fehlt es zwangsläufig auch an Sachverstand, der sich nicht täuschen lässt. Ferner haben wir uns durch die modernen Fortbewegungsmittel daran gewöhnt, dass sich auch tote Objekte bewegen können, obgleich sie dies keineswegs von sich aus tun, sondern ihre Bewegung oder Fortbewegung in der Regel Ausdruck eines menschlichen Willens ist, was es eben auch noch zu bedenken gilt, wollen wir unser Umfeld verstehen. Wer also mit Bewegung und Ruhe physikalischer Objekte wissenschaftlich zu tun hat, aber die zuvor geschilderten komplexen Bedingungen einer Bewegungswahrnehmung und der Ermittlung einer Geschwindigkeit nicht berücksichtigt, um z.B. alles "ganz einfach" erklären zu können, kann dann auch keine objektiven Aussagen zur Sache machen, sondern pflegt nur seinen am Lebendigen geübten Bewegungseindruck, den Ernst Mach (1838-1916), die Vernunft verachtend, jedoch für besonders objektiv hielt (haha!), so ganze Physikergenerationen in die Irre führend, für welche die Beobachterrolle sowieso ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Ich aber finde, sie ist gar nicht so schwer zu verstehen wenn man sich Mühe gibt und nicht nur bequem, eben scheinbar nur "ganz einfach", gedankenlos seinen Seh- und Denkgewohnheiten folgt, wie dies Mach mit seiner "Denkökonomie" zur Tugend erklärt hat, die sich um Ursachen nicht kümmert, weil sie angeblich "metaphysisch" wären – in Wahrheit ein Nichtverstehen infolge mangelnden Sachverstands, der sich bei fehlender Unterscheidung von Sein und Schein einfach nicht einstellt. Der chinesische Weise Laotse (604 - ca.520) zu dieser Situation: "Wer alles leicht nimmt, findet lauter Schweres. Darum auch der Vollendete: er nimmt alles schwer, so findet er alles leicht."



Helmut Hille


Zum Weiterlesen:

Auf WEGE DES DENKENS z.b. Text I/B12 "Die wahre Relativität der Bewegung"

 

 

http://www.helmut-hille.de/lt9.html

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