museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012

Die Bewegung - das Phantom der Physik

15.02.2012

Der Attributationsmechanismus - die Methode mit Nichtwissen umzugehen

Einer der erfolgreichsten und folgenreichsten Tricks des Gehirns, sein Nichtwissen über die Welt zu überbrücken, ist der, von sich auf andere zu schließen. Sich kennt man, das andere nicht, also hält man sich an das Bekannte. Darum hat diese Methode den größten Grad von Plausibilität. Mensch und Tier benutzen sie tagtäglich. Nicht nur die Katze jagt einem welken Blatt hinterher, mit dem der Wind spielt, weil es sich für Momente wie etwas Lebendiges verhält, um das es der Katze geht. Pöppel spricht in seinem Buch "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn" da einmal ganz verschämt vom "Attributationsmechanismus", mit dem Belebtes und Unbelebtes vom Hirn gleichermaßen überzogen wird. Der Attributationsmechanismus versucht, alles nach Art des Lebendigen, beim Menschen möglichst auch noch nach menschlicher Weise zu verstehen.

Jeder hat schon vom Animismus gehört, der jedoch keineswegs einer grauen Vorzeit angehört. Nichteinmal die Wissenschaft ist von ihm bis heute verschont. Für einen Beutegreifer jedoch, der seinerseits Fressfeinde hat, ist die auf sich selbst bezogene Analogie "was ich denk' und tu, das trau ich jedem anderen zu" eine erfolgreiche Strategie, kommt es ihm doch vor allem auf das Lebendige an, darum wird er sich auf sie verlassen, auch wenn mal ein welkes Blatt ihn genarrt hat.

Weil die Menschen ihre beutegreiferischen Instinkte noch längst nicht abgelegt haben - man sehe sich nur ihre Geschichte bis zum heutigen Tage an, - sind für sie auch physikalische Körper im Zustand der "Ruhe" oder der "Bewegung", je nachdem, ob sie sich als ortsfest oder als ortsveränderlich zeigen. Daher fanden es selbst die Spitzen des europäischen Geisteslebens nicht unter ihrer Würde, jahrhundertelang darüber zu streiten, ob sich die Erde oder die Sonne "bewegt" oder "stillesteht", obwohl beide Körper rein physikalischer Natur sind und keine Bewegungsorgane haben, um dieser Frage einen objektiven Sinn geben zu können. Im Gegensatz zu einem Lebewesen, das in der Regel seine Muskeln spielen lassen muss und dabei Energie verbraucht, um sich im Zustand der Bewegung zu erhalten, ist ein natürlicher unbelebter Körper, trotz seiner "Bewegung", für sich selbst in absolut nichts von

einem "ruhenden" unterschieden - darum ist es ja möglich, über die Bewegungsfrage endlos zu streiten. Für die Grundgesetze der Physik spielt es daher keine Rolle, ob Körper von uns als im Zustand der "Ruhe" oder der "Bewegung" angesehen werden, da dies nur Wertungen des Beobachters sind, wenn er sie zu einem von ihm als solchen angesehenen Fixpunkt taxiert. Aus diesem Grund gilt Newtons 1. Axiom für beide Zustände gleichermaßen, wie es in ihm auch ausdrücklich heißt, was man jedoch bis heute geistig nicht realisiert hat. Wie das Kino seit über 100 Jahren mit seinen Standbildern beweist, ist die Bewegung ein Eindruck, der durch geschickten Bildwechsel im Kopf des Zuschauers entsteht. Das Bewegungsproblem der Physiker ist ihr Problem mit dem falsche Erwartungen erzeugenden Attributationsmechanimus und nicht mit dem toten physikalischen Gegenstand selbst, der von ihrer biomorphen Denkkategorie "Ruhe und Bewegung" und den mit ihr verbundenen Fragen und Antworten überhaupt nicht berührt wird. (Das Problem von Schein und Sein)

Das Kino und auch das nicht mehr ganz junge Fernsehen haben es nicht geschafft, auch nur ansatzweise ein allgemeines Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass die Wahrnehmung von Bewegung im Kino und von unbelebten Dingen eine Illusion ist, die einzig im Kopf des Zuschauers existiert. Man meint immer noch, die Illusion des Kinos wären die gezeigten Liebes- und Heldengeschichten, so wenn der in Wahrheit homosexuelle Hauptdarsteller wiedereinmal zum allgemeinen Entzücken den hingerissenen Liebhaber eines künstlich erblondeten Mädchens mimt. Man hat ganz vergessen, dass schon Aristoteles über die Wahrnehmung von Bewegung und Größe feststellte: "Da ist nun am meisten die Wahrnehmung dem Irrtum ausgesetzt." Und dass von den vorsokratischen Eleaten ("Parmenides, Melissos und ihre Anhänger") überliefert ist, dass sie lehrten, "dass sie [die Bewegung] nicht existiert", nämlich als eine objektive Eigenschaft eines Unbelebten, kommt diese doch nur dem Belebten zu.

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS Text II/7 "Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung"

http://www.helmut-hille.de/page22.html

Ausgezeichnet.org