museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Die Zeit, wie so vieles, ein Geschenk des Gedächtnisses
15.03.2012
Alles Wahrnehmen von Zeitlichem wird uns durch das Gedächtnis geschenkt. Ohne das Gedächtnis hätten wir nur unverbundene Momentaufnahmen von Bildern und Lauten. Erst durch das verbindende und vergleichende Gedächtnis entsteht das, was wir als Veränderung, Bewegung, Sprache und Melodie erleben. Die erlebte Welt ist so ein Konstrukt des Gehirns. Doch dieses bildet und speichert die Wahrnehmungen nicht einfach nur ab, sondern selektiert und bewertet sie nach den Erfordernissen seines Trägers. Das hat das Gehirn im Laufe der Evolution gelernt, die das Bewährte bewahrt. Auf diesem Weg entsteht ein sich selbst verstärkender Effekt, die auch der bloßen Erfahrbarkeit der Welt Grenzen setzt, kommt es für den Menschen als soziales Wesen doch mehr darauf an, mit seinesgleichen in Frieden leben zu können.
Höherwertige soziale Fähigkeiten verdrängen das beliebige Wissen in den Untergrund. Es gibt Menschen, Savants, "wissende Idioten", genannt, die dazu nicht in der Lage sind. Sie können sich zwar alles bis ins Detail merken oder sind wahre Rechengenies, jedoch oft unfähig, sich selbst zu versorgen oder am Gemeinschaftsleben teilzunehmen. Dustin Hoffman hat im Film "Rainman" einen solchen, im Alltag hilflosen Savant großartig gespielt. Die Hirnforscher rätseln nun, ob nicht jedermann über ein solches Wissen verfügt, das zugunsten seiner sozialen Präsens verdrängt ist.
Die Bedeutung des Gedächtnisses kann nicht überschätzt werden, denn wie Alzheimer zeigt, gibt es ohne das Gedächtnis kein geistiges Menschsein. Die letzten verständlichen Worte der ersten Alzheimerpatientin waren: "Herr Doktor, ich habe mich verloren". Was dies heißt, erlebt heute ausgerechnet der Rhetoriker und Philologe Walter Jens, für den Sprache alles war, auf besonders tragische Weise. Seine Frau, sein Sohn und seine Pflegerin lassen uns durch die Medien an seinem Alzheimerschicksal Anteil nehmen, weil es in einer alternden Gesellschaft viele treffen kann. Deshalb sollten wir bewusst die Leistungen des Gehirns genießen, solange es noch funktioniert. Es sind ja nicht nur Musik und Sprache die es uns schenkt. Auch die Farben, die es zur besseren Unterscheidbarkeit der Dinge generiert, sind eine solche Gabe, die Farbenblinden nicht vergönnt ist. Und wie könnten wir uns in der Welt orientieren, wenn wir kein gespeichertes Wissen hätten?
Voltaire hat in seinen philosophischen Erzählungen "Wie die Welt es treibt" auch "Das Abenteuer des Gedächtnisses" geschrieben. Um die Menschen wegen ihrer Verachtung desselben zu strafen, baten die Musen ihre geliebte Mutter Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses, den Menschen das Gedächtnis zu nehmen. Darauf brach ein allgemeines Chaos aus, weil niemand mehr wusste, was zu tun ist. "Der Gerichtspräsident und der Erzbischof liefen nackt herum, und ihrer Stallknechte trugen teils den roten Talar, teils die Dalmatika; alles war durcheinander, alles schickte sich an, vor Elend und Hunger umzukommen, weil eine Verständigung nicht möglich war". Auf Bitten der Muse gab Mnemosyne nach einigen Tagen den Menschen das Gedächtnis zurück und sie rief ihnen zu: "Dummköpfe, ich verzeihe Euch: aber erinnert Euch daran, dass es ohne Sinne kein Gedächtnis gibt, und ohne Gedächtnis keinen Geist":
Die Verachtung einer eigenen Rolle des Geistigen ist auch ein Problem unserer Tage. Für mich sind jene Wissenschaftler besonders arm dran, die fest davon überzeugt sind, alles wäre so, wie es sich ihnen zeigt. Für sie ist die Zeit eine Sache, die außerhalb des Gehirns draußen in der Welt existiert, weshalb sie mit der Uhr in der Hand durch die Labore laufen, um die "wahre Systemzeit" zu messen, so wie die Schildbürger einst das Licht in Säcke einfangen wollten, wobei das Licht immerhin noch etwas Reales ist. Doch die Zeit ist nicht der Gegenstand sondern das Maß des Messens, nämlich der Dauer, die an unsere Erinnerungsfähigkeit gebunden ist. Außerhalb unseres Erinnerns gibt es nichts, was wir die Zeit nennen können. Das sollte uns Anlass zur Dankbarkeit gegenüber der Beobachterrolle sein, die wir nicht hoch genug einschätzen können. Und je klarer wir sie sehen, umso mehr wird uns letztlich auch die Welt verständlich – soweit jemand daran gelegen ist.
Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS Text II/2 "Einsteins Frage nach der Gegenwart. Das Gespräch Einstein – Carnap"