museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012

Auf was Verstehen beruht

15.06.2012

Der US-amerikanische Wissenschaftsautor Thomas S. Kuhn (1922-1996) fragte: "Wie muss die Welt beschaffen sein, dass wir sie verstehen?" Doch muss die Frage nicht eher lauten: "Wieso meinen wir, die Welt zu verstehen?" Dieser Frage wird hier nachgegangen. Denn nur wenn wir wissen, auf was unser Verstehen beruht, können wir auch unser Weltverständnis einschätzen. Doch was die Welt jenseits unseres Verständnisses ist, bleibt uns zwangsläufig verborgen. Kuhns Frage ist also müßig und hat mit der Verkennung der kaum zu überschätzenden Beobachterrolle zu tun. Andererseits meinte er in der Physik zu Anfang des 20. Jahrhundert einen "Paradigmenwechsel" zu erkennen, also der Wechsel eines Denkmusters, das natürlich auch einfach ein Modewechsel gewesen sein kann, wie er oft im menschlichen Leben vorkommt.

Wollen wir uns nicht auf solche Moden verlassen, gilt es die Natur unseres Verstehens zu klären. Dazu gehören in erster Linie Konstanten, auf die wir uns verlassen können. Quantitativ sind das Zahlen und physikalische Größen mit ihren in Normen und internationalen Konventionen vereinbarten Messeinheiten, auf denen die technische Zivilisation beruht. Qualitativ sind es wiederkehrende immer gleiche Erfahrungen. Wahr ist uns, was sich bewährt und dasjenige, was uns von Autoritäten als "wahr" gelehrt wird, denn man kann ja nicht alle Erfahrungen selber machen. Und wo wir nicht tiefer blicken, schließen wir uns einfach dem Zeitgeist an, von Kuhn "Paradigma" genannt, der eben der Denkmode unterliegt.

Das kann natürlich in den Naturwissenschaften nicht sehr befriedigend sein, weshalb sie nach Beweisen suchen muss. Doch auch Beweise haben ihren Wert nur in dem Zusammenhang, in den sie gestellt sind und der in der Sache nicht das letzte Wort sein muss. Darüber hinaus ist jeder Beweis nur soviel wert, wie der Geist, in dem er geführt wird. Ist der Geist nicht lauter und frei von Vorurteilen, sind es auch seine "Beweise" nicht. Denn was wir denken und reden ist ein Spiegel unserer Gesinnung. Es ist also nach dem Selbstverständlichen zu fragen, also nach dem, was sich von selbst versteht. In der Physik sind es die Erhaltungssätze, allen voran der der Energie, die das physikalisch Allgemeinste ist. Die Physik ist dadurch definiert, dass sie es mit Unbelebten zu tun hat, das also von sich aus in seinem Zustand verharrt, solange keine Kraft auf es einwirkt.

Erst die Änderung eines Zustandes oder Tempos bedarf daher einer Erklärung in Form einer materiellen Ursache. Das ist daher mit Recht der Inhalt von Newtons 1. Axiom seiner Bewegungslehre von 1686. Doch bereits René Descartes (1596 – 1650) nannte es "Das Erste Naturgesetz", dass jede Sache "soviel an ihr liegt" in ihrem Zustand bleibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir Menschen sie als "ruhend" oder "bewegt" ansehen, denn beide Verhaltensweisen sind menschliche Wertungen zu einem Bezugspunkt, den der Beobachter setzt, also subjektiv.

Darüberhinaus sind es Vokabeln des Lebendigen, das über Bewegungsorgane und Bewegungswillen verfügt, die somit in der Physik den objektiven Sachverhalt überhaupt nicht treffen können. Und "ruhen" wie Opa auf dem Sofa bei einem Nickerchen tut Materielles schon gar nicht. Der von Kuhn beobachtete Paradigmenwechsel betraf aber gerade den naiven Gebrauch solch unzutreffender Begriffe, welche die "Fachleute" bis heute nicht stören. "Sprachvergessenheit ist zum Kennzeichen der Naturwissenschaften geworden." (Peter Janisch, 2009 in "Kein neues Menschenbild").

Unser Verstehen beruht auf dem im Gehirn gespeicherten Wissen, wie zuverlässig es auch sei. Ein Rückgriff auf einem außerhalb des Gehirns liegendes objektiv Wahres ist uns nicht möglich. Wir können nur das "für wahr" halten, was wir wissen, ggf. unter Benutzung von Medien. Etwas für "wahr" halten, von dem man nichts weiß oder nichts Genaues weiß, nähme dem Wahrheitsbegriff jeden Inhalt. Ich denke, dass es zur Würde des Menschen gehört, Nichtwissen auszuhalten. So sollten wir mit Goethe um unsere Grenzen wissend bestrebt sein, "das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren."

Helmut Hille

zum Weiterlesen:
Mein DPG-Vortrag von 2005 "Über das Selbst-Verständliche als Grundlage jeder Theorie"

http://www.helmut-hille-philosophie.de/t-selbst.html

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