museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Neurophilosophie – was ist das?
14.09.2012
Neurophilosophie ist die Verbindung von Gehirnforschung mit philosophischen Fragestellungen, z.B. mit den Fragen "Was ist Wahrheit?" oder "Was ist Zeit", die beide ein Uraltthema der Philosophie sind und trotzdem immer noch kontrovers diskutiert werden. Bei der Frage nach der Wahrheit hilft uns schon das unstrittige Wissen, dass der Mensch, wie viele andere Lebewesen, zwei Gehirnhälften mit unterschiedlichen Funktionen hat. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass in der rechten Hirnhemisphäre das gesammelte Wissen gespeichert ist, zusammengezogen zum Weltbild seines Trägers, während die linke Hemisphäre dies detailliert zu artikulieren versucht, um sich mit anderen Austauschen und ggf. auch korrigieren zu können. Das ist unsere Grundsituation als selbstreferentielle (selbstbezogene) Wesen, die wir zwangsläufig sind.
Und wenn wir das Gefühl haben, dass das Gewusste mit dem von einem selbst oder von jemand anderen Gesagte übereinstimmt, halten wir es "für wahr". Auf eine außerhalb des Wissens und damit des Gehirns liegende "Wahrheit" sich berufen zu können, ist eine Illusion und die Position des naiven Realismus. Doch etwas für "wahr" zu halten, von dem man nichts weiß, würde dem Wahrheitsbegriff jeden Sinn nehmen. Die Neurophilosophie ist keine Theorie, weil sie mit den verwendeten unstrittigen Befunden unsere Erfahrungen ohne Hilfsannahmen einsichtig macht. Und indem wir die Wahrheitsfrage für im Wesentlichen geklärt halten dürfen und verstehen, warum irren menschlich ist, können wir in Frieden mit anderen Menschen kommen.
Heute ist es üblich geworden, die Zeit als ein großes Rätsel der Menschheit hinzustellen, um nicht zugeben zu müssen, dass sie eine von ihr selbst gesetzte physikalische Größe und damit keine materielle Sache ist. Selbst die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig, die für die Vorgabe von Messgrößen für Deutschland verantwortlich ist, scheut sich nicht 2012 anlässlich ihres groß gefeierten 125-jähringe Jubiläums zu schreiben: "Wer an die heutige PTB denkt, dem fällt als erstes gewiss die "Zeit" ein, deren Geheimnis zwar auch die Physiker nicht aufdecken können, die sich aber so genau messen lässt
wie nichts anderes in der Welt." Doch die Zeit kann man nicht messen, weil sie das Maß des Messens ist, nämlich das der Dauer! Auch die Zeit kann nicht ohne das Gehirn verstanden werden, um das sich Physiker nur ungern kümmern, obgleich es zahlreiche Lehrstühle für Neurophysik gibt, wo das Gehirn mit physikalischen Mitteln untersucht wird. Die Zeit ist wie die Wahrheit nicht etwas, was außerhalb unseres Gehirns existiert. Außerhalb von ihm gibt es nur materielle Uhren, die uns Zeitpunkte geben, mit denen wir entweder den Zeitpunkt eines Ereignisses bestimmen oder seine Dauer als die Differenz zweier Zeitpunkte ermitteln können, so wie die Länge die Differenz zweier Raumpunkte ist. Daran ist nichts, was nicht jedermann verstehen könnte.
Den Eindruck von Zeitlichen gewinnen wir durch das Gedächtnis, das die unvermeidlich kurzen Sinneseindrücke miteinander verbindet und vergleicht. Ohne das Gedächtnis wüssten wir nichts von Bewegung und Zeit, würden wir keine Sprache und Melodien kennen, sondern hätten nur unverbundene Momenteindrücke und damit nichts, was unser Menschsein ausmacht. Das kann jedermann leicht nachvollziehen und ist ein weiteres Beispiel für Neurophilosophie. Wissenschaften können sich nicht aus sich heraus begründen, sondern immer nur vor dem Hintergrund der Bedingungen unserer Existenz, mit der es sich zuerst auseinanderzusetzen gilt, weswegen die wissenschaftlichen Fragestellungen zuerst welche der Philosophen waren. Und zu diesen Fragestellungen müssen wir zurückkehren unter Verwendung des gewonnenen Wissens, wollen wir uns selbst und damit auch die Welt verstehen.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS, II. Die Hervorbringung des Menschlichen
Text (7) "Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung"