museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012

Kann es eine Weltformel geben?

15.10.2012

Im letzten Jahrhundert gab es Versuche mehrerer prominenter Physiker, eine Weltformel "für alles" zu finden. Da dies nicht gelungen ist, ergibt sich die Frage, ob die Versuche (oder die Physiker) nur unzulänglich waren oder die Welt sich einer solchen Formel verweigert. Die Quantenphysik hat gezeigt, dass es einerseits nicht möglich ist, für bestimmte Ereignisse letzte Ursachen zu nennen (die "Unschärfe", die nur Wahrscheinlichkeiten zulässt), andererseits auch, dass weit voneinander entfernte Teilchen momentan aufeinander reagieren, sofern sie durch eine gemeinsame Emission miteinander "verschränkt" wurden, ohne dass dafür eine weitere physikalische Ursache genannt werden kann. Ebenso wurde alle Materie durch den sog. Urknall miteinander verschränkt, was wir als Schwerkraft erfahren. Diese ist seit Newton zwar gut berechenbar, doch über die Art ihres Wirkens gibt es nur Hypothesen, die Newton aus gutem Grund abgelehnt hat, in der weisen Einsicht, dass die Realität alle Denkbarkeit übersteigt.

Das zeigt eine bis heute prinzipielle Grenze unseres Wissens, die wir nicht überwinden können, abgesehen davon, dass wir auch im Biologischen und Geistigen ebensolche Grenzen finden. So wissen wir immer noch nicht, wie Leben und Bewusstsein entstanden sind. Gläubige greifen in diesen Fällen auf Gott als Schöpfer zurück, der eben dem Menschen weit überlegen wäre, weshalb er kein Problem hat, dies alles zu machen. Für sie also ist "Gott" die Weltformel, die zwar leer ist, jedoch den wesentlichen Aspekt enthält, dass es ein schöpferisches, unserem linearen Denken überlegenes Element geben muss, das die Vielfalt der Welt ermöglicht. Man denke nur an die ungeheuere Vielfalt der Arten, die kommen und vergehen. In der englischen Metaphysik hat man dafür den Begriff der Emergenz (auftauchen, zum Vorschein kommen) geprägt. Etwas Neues taucht auf, wenn sich Elemente oder Partner verbinden, wo dann etwas von ihnen Verschiedenes entsteht. Parmenides, ein griechischer Philosoph aus Elea in Unteritalien (um 540-480 v. Chr.), aus einem Geschlecht von Medizinern stammend, Begründer der eleatischen Denkschule, beschrieb das in seinem Lehrgedicht über die Natur anhand der Zeugung als

Beispiel so: "Als ersten von allen Göttern ersann sie (die gebietende Macht) den Eros." "Wenn Frau und Mann zusammen die Keime der Liebe mischen, formt die Kraft, die diese (Einheit) in den Adern aus verschiedenem Blute bildet, wohlgebaute Körper, wenn sie nur die Mischung bewahrt." Und "…bei allem und jeden - das Mehr an Mischung nur ist ihnen (allen Dingen) Gedanke." Wir haben es also mit einem permanent wirkenden schöpferischen Prinzip zu tun, das wir auch überall um uns herum erfahren, und nicht mit einem fertigen Weltentwurf, der in eine Formel gegossen werden kann. Meister Eckhart beschrieb die Zeitlosigkeit  des schöpferischen Prinzips in der Sprache der Theologie so: "Das Eine selbst aber ist ein Beginn sonder allen  Beginn.

Überhaupt hätte Gott die Welt nie geschaffen, wenn Erschaffensein nicht gleichbedeutend wäre mit Erschaffen. Darum hat Gott die Welt in der Weise erschaffen, dass er sie noch heute ohne Unterlass erschafft. Ist doch alle Vergangenheit und alle Zukunft Gott fremd und ferne." Die Emergenz ist dabei die Weltformel ohne Formel und steht für ein offenes Universum, in dem immer wieder durch Zufall Neues entsteht und Altes vergeht und Raum für menschliche Freiheit und Verantwortung bleibt. "Zufall" heißt hier: ungeplant – nicht mehr und nicht weniger. Dieser Zufall und diese Offenheit hat aber unter den Menschen nicht nur Freunde, weil sich viele von ihnen zu ihrer inneren Sicherheit letzte Gewissheiten wünschen. Für mich aber gehört es zur Würde des Menschen, unbeantwortbare Fragen auszuhalten und dadurch ebenso offen und frei wie das Weltall selbst zu sein.

Helmut Hille

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS, II. Die Hervorbringung des Menschlichen
Text (5) "Was uns hindert, die Einheit des Daseins zu sehen. In der Sicht des Parmenides."

http://www.helmut-hille.de/lt11.html

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