museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2012
Der Philosoph sollte das Grundsätzliche bedenken
15.12.2012
Die Jubiläumssentenz – Dez. 2012: 10 Jahre Philosophische Sentenz des Monats
Da es sonst keiner tut, sollte der Philosoph das Grundsätzliche bedenken. Das Tatsächliche sollte er den Wissenschaftlern, das in der Politik Erforderliche und Mögliche den Politikern überlassen. Wenn aber keiner die Pilatusfrage "Was ist Wahrheit?" beantworten kann, sollte der Philosoph es können, damit die Menschen wissen, worüber sie streiten.
Da die Wahrheitsfrage wie viele andere Grundsatzfragen aber etwas mit unserem Denken zu tun hat, gilt es die Arbeitsweise des Gehirns zu berücksichtigen und diese Richtung neuzeitlicher Philosophie nennt man Neurophilosophie – die Verbindung philosophischer Fragestellungen mit Befunden der Gehirnforschung. Dabei ist letztere in ihre Schranken zu verweisen. Heute glauben nämlich viele Gehirnforscher, dass sie die Deutungshoheit hätten, ohne jedoch grundsätzliche Fragen beantwortet zu haben. So erklären sich einige die Fähigkeit zur Grammatik einfach mit Grammatikgenen.
Doch die Grammatik spiegelt die geistige Situation des Subjekts und ihre Formen sind die Darstellung geistiger Operationen, weshalb Grammatik weder angeboren ist, noch gelernt werden muss. Sie ergibt sich im Prozess der intellektuellen Reifung des Kindes und muss von ihm, anhand von Mustern, nur noch geübt werden. Chomskys Annahme einer angeborenen eigenen Tiefengrammatik erübrigt sich. Nietzsche sah genau, dass "vernünftiges Denken ein interpretierendes Denken (ist) nach einem Schema, das wir nicht abwerfen können". Dieses Schema ist die kognitive Situation selbst, aus der wir nicht ausbrechen können und in der wir zwangsläufig einem Subjekt (S) Prädikate (P) zuordnen, also Urteile über das S fällen.
Die Wahrheitsfrage hat mit dem Gehirn direkt etwas zu tun, das nicht ohne Grund in zwei Hemisphären geteilt ist. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass in der rechten Hirnhälfte das gesammelte Wissen - zu einem Weltbild verbunden - gespeichert ist, gewissermaßen zur Quersumme verrechnet, während die linke Hälfte versucht, es zu artikulieren. Wenn wir nun das Gefühl haben, dass das Gesagte – gleich von wem – mit dem Gewussten übereinstimmt, haben wir das Gefühl, dass es wahr ist.
Die zwei Hälften des Gehirns sind unsere Waage der Welt, für die von altersher die Göttin der Gerechtigkeit steht, die mit verbundenen Augen rein aus ihrem Wissen heraus das gerechte Urteil zu erwägen sucht. Es gibt keine andere Wahrheitsinstanz. Selbst wenn wir etwas eingehend prüfen, gewinnen wir aufgrund unseres Wissens nur ein weiteres Urteil, wie richtig das auch sei.
Auch die menschliche Sinnsuche kommt aus der Arbeitsweise des Gehirns, das ein riesiges rationales Organ ist, das im Unbewussten arbeitet. Es will sich die Welt verständlich machen und sucht daher ständig nach dem Sinn von Strukturen und Handlungen. Daher kommt es, dass viele Menschen nach dem Sinn des Lebens suchen. Doch es gibt Dinge, die man einfach akzeptieren muss, will man sich nicht zum Narren seines Gehirns machen. Die Natur kennt weder Ziele noch Zwecke, sie ist einfach da und bedarf dazu keiner Begründung, die sie ja von etwas Übernatürlichem abhängig sehen würde, was der Ursprung des Gottesgedankens ist. Da das Leben eine Organisationsform von Materie ist, die sich selbst durchhält, ist es auch Zweck unseres Daseins Nachkommen zu haben. Das wäre der biologische Sinn des Lebens, in seiner sich durchhaltenden Natur angelegt, es sei denn, wir geben unserem Leben selbst einen darüber hinausgehenden Sinn.
Neben dem Sinn suchen wir ständig nach Bedeutungen. So versuchen wir immerfort Ereignissen, Zeichen, Bildern, Worten, Träumen usw. Bedeutungen zu verleihen, um sie uns verständlich zu machen. Dabei wäre es besser, sich mit Urteilen zurückzuhalten in der weisen Einsicht, dass die Realität alle Denkbarkeit übersteigt. Kennen wir die Arbeitsweise des Gehirns und berücksichtigen sie, werden wir Herr im eigenen Haus. Daher ist das Philosophieren für mich das Ringen um die Freiheit des Geistes.
Helmut Hille
zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS, II. Das Verhältnis zwischen Denken und Sein
Text (4) Was uns veranlasst, eine Aussage für "wahr" zu halten