museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2013
Das Gottesteilchen
15.02.2013
Es fällt auch Physikern schwer, Physik und Metaphysik immer sauber zu trennen, weil letztere zur unhinterfragbaren Grundüberzeugung von Menschen gehört, die sie irgendwie bestätigt sehen möchten. Als "Vater der neueren Philosophie" wird der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596 – 1659) genannt, der klar sagte, dass physikalische Objekte "soviel an ihnen liegt" sich in ihrem Zustand erhalten, was er "Das Erste Naturgesetz" nannte. Bei Newton (1643 – 1727) heißt es in seiner berühmten Schrift, kurz "Principia" genannt, in Definition III gleichsinnig: "Die der Materie eingepflanzte Kraft ist die Fähigkeit Widerstand zu leisten, durch die jeder Körper von sich aus in seinem Zustand der Ruhe oder in dem der gleichförmig-geradlinigen Bewegung verharrt", eine Formulierung, die in sein 1. Axiom eingegangen ist, wo jedoch der wichtige Hinweis fehlt, dass die Materie die Fähigkeit des Verharrens "von sich aus" hat, weshalb dieses Axiom gern falsch interpretiert wird.
Der Siegeszug der neuzeitlichen Physik begann also mit der Suche nach den den Dingen immanenten Fähigkeiten, was natürlich den Gottgläubigen gar nicht gefiel. Heute nimmt man an, dass Descartes bei seinem Aufenthalt in Stockholm von seinem katholischen Beichtvater vergiftet wurde. Weil bei Newton Körper von sich aus verharren und sich auch von sich aus in eine Wechselwirkung einbringen, wurde er von seinem Konkurrenten Leibniz (1646 – 1716) bei der Gattin des englischen Thronfolgers der Gottlosigkeit bezichtigt, was infam war, da der englische König das Oberhaupt der anglikanischen Kirche ist. Newton hatte in Definition III zwar vorsichtshalber eingefügt, dass die Fähigkeit der Materie Widerstand zu leisten, ihr "eingepflanzt" wäre, was jedoch nur rhetorisch war. Mit Recht wird die Kraftgröße heute das Newton genannt.
Mit dem Neupositivismus von Ernst Mach (1838 – 1916) gab es aber auch eine Gegenbewegung, die nichts mehr von immanenten Ursachen wissen wollte, die sie als "metaphysisch-religiöse Spekulationen/Humbug" ansahen, was insbesondere jene freute, die lieber alles nur berechnen wollten, ohne es auch noch verstehen zu müssen. Einstein (1879 – 1955) griff Machs Idee auf, dass für die örtliche Trägheit eines Körpers "die fernen Fixsternmassen" verantwortlich wären ("Machsches Prinzip"). Diese fernen Fixsternmassen waren für ihn so etwas wie ein Gottesersatz, weshalb ihm seine Relativitätstheorie auch als "Abglanz Gottes" erschien.
Ähnlich wie Leibniz mit Newton erging es Einstein lebenslang mit der Quantenphysik, für welche die erfahrbaren Quantenphänomene zur Beschreibung und Berechnung ausreichend waren, während Einstein mit zwei Kollegen noch lange etwas hinter den Phänomenen suchten, gewissermaßen Gottes steuernde Hand. "Doch wer immer hinter die Dingen zu sehen versucht, sieht am Ende die Dinge selber nicht mehr", warnte schon Augustinus.
In der Teilchenphysik ist anstelle der Trägheit verleihenden "fernen Fixsternmassen" das Higgsboson getreten, weshalb man es auch "Gottesteilchen" nennt, das von den Physikern mit großem Aufwand gesucht wird. Warum Teilchen wie schon beim Machschen Prinzip selbst trägheitslos sein sollen, ist mir nicht bekannt. Es kann m.E. auch keinen vernünftigen Grund dafür geben. Trägheit ist einfach Ausweis von Existenz. Was keinen Widerstand leistet, ist prinzipiell unerfahrbar und für uns nicht existent. Das mit dem Higgsboson verbundene Higgsfeld wäre dann wieder so etwas wie Einsteins absoluter Raum, der die Dinge in ihre Bahn "zwingt", eine Idee, die er fälschlich Newton unterschob, der jedoch gesagt hatte, das Körper ihre Trägheit von sich aus haben, also keine fremde Hilfe benötigen.
Was die Physiker mit Hilfe des LHCs (Large Hadronen Collider) in Cern finden, sind wie immer in Beschleunigern Muster von Energien, die dort erst erzeugt werden. "Fast alle Teilchen, deren Felder im modernen Standardmodell der Teilchen und Wechselwirkungen auftreten, zerfallen so schnell, dass sie in gewöhnlicher Materie nicht vorkommen und im Leben der Menschen keine Rolle spielen." (Steven Weinberg in "Dreams of a Final Theory"). Für mich sieht es danach aus, dass bei der Suche nach dem Gottesteilchen es sich eher um eine Spielart des fremdbestimmten Determinismus handelt, der immer etwas hinter den Erscheinungen sucht, letzten Endes Gott oder wenigstens seine steuernde Hand. Bezüglich der Schwerkraft gab Rilke (1875 – 1926) zu gleicher Zeit dieser allzumenschlichen Sehnsucht nach Geborgenheit in seinem Herbstgedicht wie folgt Ausdruck: "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält."
Helmut Hille
zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS, I. Rationale Grundlagen der Physik
Text I/B16 "Ausreden ohne Ende?"