museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2013

Goethe als Erkenntniskritiker

15.09.2013

Als aufmerksamer Beobachter seiner selbst und der Welt um ihn war Goethe geleitet, vieles kritisch zu sehen, und versucht, dem Subjektiven auf die Spur zu kommen. Dass wir nur das bewusst sehen, was wir kennen, drückte er so aus: "Allein hätte ich nicht Welt durch Antizipation (Vorwegnahme) bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben." Die Rolle des Beobachters ist also allgegenwärtig: "Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt." "Erscheinungen" gehören zur Welt des Scheins, mit denen ein Beobachter die Welt auf seine ihm mögliche Weise wahrnimmt, so wie Luftschwingungen durch ihn zu Tönen, Helligkeitsdifferenzen zu Bildern werden usw., Erscheinungen die darüber hinaus von Mensch zu Mensch durchaus verschieden sein können.

Wie wir wissen, wollte Goethe auch Wissenschaftler sein. So entdeckte er in Jena den Zwischenkieferknochen des Menschen als das Missing Link zu den Wirbeltieren. Auch mit seiner langen Suche nach der Urpflanze nahm er durchaus Gedanken von Darwin vorweg, weshalb es immer falsch ist, den Evolutionsgedanken zuerst bei Darwin zu sehen, auch wenn er ihm durch seine Studien zum Durchbruch verhalf. Goethes Skepsis war aus eigener Erfahrung gerade auch gegenüber den Wissenschaften groß: In seiner "Italienischen Reise" finden wir folgende Bemerkung von ihm über das Verhältnis von Mensch und Wissenschaft: "Der junge Mann verlangt Gewissheit … Kommt man tiefer in die Sache, so sieht man, wie eigentlich das Subjektive auch in den Wissenschaften waltet, und man prosperiert nicht eher, bis man anfängt, sich selbst und seinen Charakter kennen zu lernen." Doch wer möchte sich schon so desillusionieren? Goethes Verständnis gelangte bei Newton an seine Grenze.

Auch mit den Philosophen haderte Goethe, die ihm oft zu wortklauberisch waren, weshalb er 1829 gegenüber Eckermann äußerte: "Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei erhalten." So lässt er Mephisto im Faust zum Schüler sagen: "Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten, an Worte lässt sich trefflich glauben, von einem Wort lässt sich kein Jota rauben." Und weiter: "Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben, sucht erst den

Geist herauszutreiben, dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider! nur das geistige Band." Dazu noch einmal Goethe in seiner Italienischen Reise: "Alle Philosophie über die Natur bleibt doch nur Anthropomorphismus, d.h. der Mensch, eins mit sich selbst, teilt allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins." So sehen heute viele Physiker unbelebte Gegenstände wie sie sich selbst "ruhen" oder "bewegen", obgleich Unbelebtes weder Bewegungsorgane noch einen Bewegungswillen hat, sondern nur in seinem Zustand verharrt, solange keine Kraft auf es einwirkt. Eine Lage von Objekten entsteht nur dadurch, dass Menschen Dinge unwillkürlich zueinander in Beziehung setzen, wodurch sich für sie in gewohnter Sichtweise der Eindruck ihrer Ruhe oder Bewegung ergibt, während die Dinge selbst nichts von Ort und Zeit wissen.

Dem naiven Wahrheitsanspruch trat Goethe wie folgt entgegen: "Der Gedanke lässt sich nicht vom Gedachten trennen." Es gibt kein Jenseits des Gedachten, auf das Menschen sich berufen können. Sie können immer nur auf ihr Wissen und das bereits Gesprochene rekurrieren (zurückkommen) und von daher urteilen. Und um ein Wissen allgemein zu machen, gibt es ja die Schulen und Hochschulen, sowie die Medien mit ihrer täglichen Sprachregelung. Doch für Goethe galt: "Wahre Überzeugung geht vom Herzen aus, das Gemüt, der eigentliche Sitz des Gewissens, richtet über das Zulässige und Unzulässige weit sicherer als der Verstand." Das unbewusste Wissen ist eben das Ergebnis einer langen Erfahrung, nicht nur im Leben des Individuums sondern auch in der Geschichte seiner Gattung und des Lebens selbst. Allem nur theoretischen Wissen abhold vermerkte er: "Ich will auch nicht mehr ruhen, bis mir nichts mehr Wort und Tradition, sondern lebendiger Begriff ist. Von Jugend auf war mir dieses mein Trieb und meine Plage." Man sieht es an seinem Faust.

Helmut Hille

Zum Weiterlesen:
ZEIT UND SEIN. Philosophie kurz und bündig
(6) Der Humanfaktor in der Wissenschaft

http://www.helmut-hille-philosophie.de/anhang6.html

Ausgezeichnet.org