museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2013

Der Philosoph Graf Hermann Keyserling

15.10.2013

Graf Hermann Keyserling war von altem baltischem Landadel. Er wurde 1880 in Livland (Estland) geboren und studierte in Genf, Dorpat, Heidelberg und Wien Chemie, Zoologie und Geologie. Bekannt wurde er mir durch sein zweibändiges "Reisetagebuch eines Philosophen", das seine Eindrücke auf seiner Reise vor dem 1. Weltkrieg schilderte, die ihn vom Mittelmeer aus über Aden in Afrika, Indien, China, Japan und die USA führte. Auf seiner Sinnsuche meinte Keyserling, dass der kürzeste Weg zu sich selbst um die Welt herum führt, was auch das Motto des Buches ist. Überall wo er hinkam, versuchte er das Wesen der Menschen und ihrer Kultur aber auch der Landschaften zu verstehen und ggf. in sich wiederzufinden, jedoch immer weiter eilend. Er hatte sich nämlich gefragt: "Was sieht denn unsereiner? Nur das, was menschlichen Bedürfnissen entspricht." Um sich herauszufordern, wollte er sich einer ihm fremden Welt aussetzen, seine Leser daran teilhaben lassend. So heißt es im Reisetagebuch anlässlich eines Ausflugs an einen See in Ceylon mit großen Artenreichtum an seinen Ufern: "Vom Geiste her betrachtet liegen eben die Bilder der Wirklichkeit auf einer Ebene mit den Schöpfungen der Phantasie, so dass zwischen Erfahrungen und Einfällen kein wesentlicher Unterschied besteht. … Nun braucht aber die Seele eine reiche und mannigfaltige Nahrung, wenn sie gedeihen und sich aufsteigend entwickeln soll. … Auch noch deshalb ist äußere Erfahrung unbedingt vonnöten, weil der Geist nie frei wird, wo er sich ständig von eigenen Produkten umgeben sieht."

Infolge des 1. Weltkrieges verlor Keyserling seine Heimat und seine Besitzungen in Estland und ließ sich in Darmstadt nieder, wo ihm der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen ein Haus geschenkt hatte. Er heiratete eine Enkelin des Fürsten Bismarck. Da er bei seiner Asienreise erlebt hatte, dass in Asien Weisheit etwas gilt, bei uns aber nicht, gründete er 1920 er in Darmstadt seine "Schule der Weisheit" auf der u.a. der indische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore auftrat. Anliegen von Keyserlings Philosophie war es, den geistigen Kern des Menschen freizulegen und bewusst zu machen. Er hatte nämlich bemerkt, dass es in der Wissenschaft und Politik des Westens eine sich aus dem fundamentalen Materialismus speisende geistige Strömung gab (und weiterhin gibt), die antiklerikal nicht nur den Heiligen Geist, sondern gleich alles Geistige leugnet. Der Physiker Ernst Mach nannte den Verzicht auf den sog. gesunden Menschenverstand mit seiner Ursachensuche "Denkökonomie", woraus andere Physiker schlossen, dass es genügt, alles berechnen zu können, ohne es auch noch verstehen zu müssen (Mathematische Physik), wogegen es Keyserling gerade um das Verstehen ging.

In den 20er Jahren bereiste Keyserling Nordamerika (1927 "Amerika, der Anfang einer neuen Welt"), in den 30er Jahren Südamerika (1932 "Südamerikanische Meditationen"), von dem er schrieb, dass ohne dessen Kenntnis keines seiner Werke tief verstanden werden kann. Im Krieg zwangsläufig in Deutschland bleibend, schrieb er  u.a. "Das Buch vom persönlichen Leben" (1936) und das "Buch vom Ursprung" (1947 erschienen), das er sein "konzentriertestes Vermächtnis" nannte, das auch mir sehr viel bedeutet hatte. Am Ende seines letzten Werkes, also quasi als sein Vermächtnis und bestimmt nicht rein zufällig zur Problematik des alles vereinnahmenden wissenschaftlichen Reduktionismus, der dem Menschen Gesicht, Geist und Seele raubt, schrieb er: "Darum ist wirklich wahr, was Chinas Weisheit also formulierte: Wie die Menschen sind, so erscheint die Welt. Eine das Wunder verleugnende Welt wird öde und leer. Eine den Geist verachtende Welt wird real geistlos. Eine nur an Mechanik glaubende Welt wird zur Maschine. Der Mensch, der seinen Ursprung verleugnet, schnürt sich tatsächlich von ihm ab. Damit nun erweist sich die Freiheit als des Menschen erstes sowohl als letztes Wort. Das aber ist das größte aller überhaupt denkbaren Wunder."

Graf Herman Keyserling, durch den Krieg nach Tirol verschlagen, starb 1946 in Innsbruck. Von ihm noch vorbereitet, wurde 1947 als Fortsetzung der Schule der Weisheit die "Keyserling Gesellschaft für freie Philosophie e.V." gegründet, deren Hauptsitz nach Hamburg Wiesbaden wurde, wo sie einmal im Jahr im dortigen Kurhaus tagte. Ich trat ihr 1955 als Mitglied Nr. 419 bei und besuchte die Tagungen regelmäßig. Auf Wunsch der Vorsitzenden Eleonore v. Dungern fuhr ich sie Jahre später von ihrem Urlaubsort Tegernsee aus nach Innsbruck, wo sie mit der Witwe des Grafen eine Verabredung hatte. Anschließend besuchten wir Keyserlings Grab (in Hall i. Tirol?), das mit einer großen Marmorplatte abgedeckt war. Wegen fehlenden Nachwuchses wurde die Gesellschaft 1984 im Schloss zu Darmstadt aufgelöst. Keyserlings beide Söhne sind eigene philosophisch-religiöse Wege gegangen. Weil Keyserling sich mit vielen Kulturen der Welt auseinandergesetzt hatte und mehr die Weisheit als die reine Philosophie schätzte, wird er in Kröners Philosophischem Wörterbuch "Kulturphilosoph" genannt.

Helmut Hille

WEGE DES DENKENS, I. Rationale Grundlagen der Physik
Datei I/B17 "Der Untergang der abendländischen Denkkultur oder Der Abschied von der Vernunft"

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