museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2013
Der Nondualist Josef Mitterer - Eine Buchbesprechung
15.11.2013
Die von Josef Mitterer, Jahrgang 1948, vertretenen Thesen zum Wahrheitsbegriff sind genauso ungewöhnlich wie gut begründet. Die Redaktion des Spiegels (DER SPIEGEL 11/1993) hat sie für wichtig genug gehalten, um den seit 1990 an der Uni Klagenfurt lehrenden österreichschen Philosophen und sein Buch "Das Jenseits der Philosophie" vorzustellen.
Die Besprechung fand soviel Resonanz, dass schon nach zwei Wochen eine 2. Auflage erforderlich wurde. Aufhänger für den "Spiegel" war der Vorschlag Mitterers, den Begriff der Wahrheit überhaupt abzuschaffen, obwohl das Anliegen des Buches mehr darin bestand zu zeigen, wie der Begriff der Wahrheit eingesetzt und was mit ihm bezweckt wird. Mitterer zeigt in zahlreichen Beispielen, dass der Urteilende sich unvermeidlich immer im Rahmen des von ihm Gesagten bewegt und dass der Rückgriff auf irgendeine im Jenseits des Sprechens liegende Wahrheit, in der das Ausgesagte nochmals als "objektive" Tatsache existiert, nur eine Illusion ist und/oder ein Mittel, den eigenen Standpunkt unangreifbar zu machen. Wahrheit ist ihm immer nur der letzte Stand der Erkenntnis, der mit der Überzeugung verbunden ist, das jeweilige Wissen adäquat ausgedrückt zu haben. Für Mitterer ist die Wahrheit ebenso persönlich wie der Irrtum, und es ist nicht möglich, die Verantwortung für die Wahrheit auf andere Instanzen zu überwälzen. Wir sind mithin in der Situation, in der wir das Objekt der Beschreibung von der Beschreibung des Objekts nicht unterscheiden können. Oder wie Goethe es schon formulierte: "Der Gedanke lässt sich nicht vom Gedachten trennen."
An Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen" erinnernd und auf sie Bezug nehmend, auch in der Durchnummerierung der Lektionen, übt Mitterer seine Kritik aufgrund sprachphilosophischer Untersuchungen der dualistischen Redeweise, die von einer Dichotomie - etwa von "Sprache-Welt, Beschreibung-Objekt, Aussage-Gegenstand, Sein-Bewusstsein, Subjekt-Objekt und anderen" - ausgeht. Der Versuch, die Beziehung zwischen den Gliedern dieser Dichotomie zu klären, führt zu philosophischen Problemen, wobei die Dichotomie selbst jedoch nicht problematisiert, sondern als conditio sine qua non des Erkenntnisprozesses vorausgesetzt wird. Dies hat zur Folge, dass der Philosophie die Probleme seit Platon erhalten blieben, selbst im radikalen Konstruktivismus. Mitterer versucht nicht, eine weitere "Lösung" der etablierten Erkenntnisprobleme anzubieten, er strebt keinen in Mode gekommenen Paradigmenwechsel an, sondern er geht in die Probleme hinein, um sie letztlich als nicht existierend zu zeigen.
Wenn Mitterer schreibt, dass es keine Dichotomie z. B. von Sprache-Welt, Beschreibung-Objekt usw. gibt, so will er damit keinesfalls behaupten, dass es keine Welt oder Objekte gibt, sondern dass es eine Illusion oder Manipulation ist, dass man sich beim Sprechen auf eine Welt oder auf Objekte außerhalb unserer Sprache und unseres Wissen beziehen könnte. Das Objekt des Sprechens ist immer das bisher Gesprochene und das persönliche Wissen, und nur auf dieses kann rekurriert werden. Selbst wenn die Diskutierenden beim Diskurs über das Material z. B. "eines Tisches, der in der Ecke steht", sich nicht einigen können und an diesen Tisch herantreten, um ihn näher in Augenschein zu nehmen und ihn ggf. zu betasten, ist es nicht der sog. reale Tisch, der den weiteren Verlauf des Diskurses bestimmt, sondern die bei der Prüfung des Tisches ggf. geänderte Meinung über ihn, die anschließend formuliert wird.
Die Behauptung einer jenseits des Diskurses liegenden Wahrheitsinstanz ist nach Mitterer nur ein Mittel des Sprechenden, mit dem er versucht, die Anpassung anderer Meinungen an die eigene herbeizuführen. Als Diskutierende wären wir überzeugt, dass wer eine von unserem Verständnis abweichende Meinung des Sachverhalts hat, sich im Irrtum befindet. Irrtümer werden für persönliche Fehlleistung gehalten, während geglaubt wird, dass die eigene Meinung "objektiv" und daher unpersönlich sei. Sollte jedoch einmal der Eindruck entstehen, dass der andere im Recht ist, wird dessen Meinung übernommen und die eigene fallengelassen, ohne dass es dazu einer außerhalb des eigenen Verständnisses liegenden Wahrheitsinstanz bedarf, wie jedermann weiß.
Helmut Hille
veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1994 (hier einige Anpassungen)
zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS, II. Das Verhältnis von Denken und Sein
Datei II/3 Buchbesprechung "Mitterer/Das Jenseits der Philosophie" mit weiteren Texten