museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2014

Meister Eckhart und das Sein an sich

15.02.2014

Das menschliche Gehirn lässt nichts so, wie es sich den Sinnen darbietet, sondern es reichert Erscheinungen solange mit ihm bekannten Eigenschaften, Relationen und Bedeutungen an, bis es mit dem Wahrgenommenen in geübter Weise umgehen kann. Auf diese interpretierende Art macht es sich das Sein ähnlich und zu eigen. Was das Sein jenseits unserer, auf das Verstehen zielenden Interpretation ist, bleibt daher die Frage. Erfahrungen und erkenntniskritische Überlegungen zeigen uns, dass das Sein alle Denkbarkeit übersteigt. Hieraus ergibt sich der Begriff der Transzendenz, als jene Grenze, die uns durch unsere kognitiven Fähigkeiten gegeben ist.

Jenseits, dieser "Transzendenz" genannten kognitiven Grenze, ist nicht eine andere Welt, sondern die Welt anders, nämlich uninterpretiert, d. h. so, wie sie für sich selber ist.

So haben Menschen aller Bildungsstufen immer wieder einmal das richtige Gefühl, dass ihr ödes "Tatsachenwissen" nicht alles sein kann, was es gibt, weshalb sie nach einer "höheren" Wahrheit suchen. Heute zielt eine solche Suche gern auf "Außerirdische", die angeblich nur darauf warten, uns das Heil bringen zu können, sobald wir für es reif sind, was eine säkularisierte Form des Gottesglaubens ist, in der das Überirdische zum Außerirdischen mutiert ist. Hierbei wird besonders anschaulich die Gefahr deutlich, in der menschliches Empfinden und Denken immer steht: dass der Mensch sich eine transzendente Welt nach dem Muster der diesseitigen bildet, denn dem Denken fällt es schwer, von seinen erprobten Mustern zu lassen. Ein solches Muster ist z.B. das der Familie. Eine himmlische Hierarchie nach ihrem Muster mit Gott als Gottvater und Überweisen, wirkt schon durch die Anlehnung an das Familienmuster überzeugend.

Empfindsame und kritische Geister sehen daher, dass sie auf diese Weise nicht aus der Gefangenschaft des Musterdenkens ausbrechen und die ihnen bekannte Welt wirklich transzendieren können. Die spirituelle Praxis lehrt, dass hier nur Selbstvergessen hilft. Dieses muss nicht unbedingt ein kontemplatives sein. Auch der Mensch, der im Dienst am Nächsten seine eigenen Nöte vergisst, der Künstler und Denker, der in seinem

Werk aufgeht, machen eine höhere Wahrheit kenntlich, die eben nicht zu den "Wahrheiten" dieser Welt gehört, in der alles notwendig von Selbstsucht, die in allen nur sich selber sucht, gesteuert wird.

Eine kontemplative Art des Selbstvergessens, der von einer religiösen Lehre der Boden bereitet wird, ist die Mystik. Die vorgefundene religiöse Lehre ist dem Mystiker dabei nur der Ausgangspunkt und die Sprache, um sich der Transzendenz zu nähern und sich und anderen sein Erleben verständlich zu machen. Er selbst aber strebt danach, die zufällig vorgefundenen Interpretationen gerade hinter sich zu lassen (und nicht, sie zu reformieren): im Überschreiten der Transzendenz in der Abgeschiedenheit der Seele von aller Interpretation. Und in diesem sich ereignenden Quantensprung des Bewusstseins zum Bewusst-Sein, den der Mystiker die Erfahrung der Gnade nennt, erkennt sich das uninterpretierte Sein, wie es in Reinheit in sich selber ist.

Gerade die Spiritualität des Fernen Ostens, die auf ein Sein und nicht auf ein Tun setzt, wie der Westen, ist von dieser Erfahrung geprägt und auf sie gerichtet, während wir im Abendland hauptsächlich nur in der mittelalterlichen Mystik Ansätze dazu finden. Wie sehr es Meister Eckhart um die Erreichung eines Zustandes ging, in der selbst Gott nur für den Menschen Gott ist, als Metapher der Transzendenz, zeige ich anhand von Zitaten aus seinen Predigten (s. weiterführender Link unten). Zugleich möchte ich mit ihnen den rastlosen modernen Menschen eine Ahnung davon vermitteln, wie Sinn gebend und Sinn erfüllend ein Leben sein kann, das um Seinserfahrung ringt und dabei die Kraft und das Glück einer in sich ruhenden Innerlichkeit erfährt, die sich der ringsum angebotenen Zerstreuung entzieht.

Helmut Hille

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS, II. Das Verhältnis von Denken und Sein
Datei II/12 Der philosophische Kern der Lehre Meister Eckharts

http://helmut-hille.de/eckhart2.html

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