museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2014
Für die Immanenz von Kräften
15.07.2014
Der Fortschritt in der Naturerkenntnis bestand letztlich darin, von den natürlichen Dingen soviel zu wissen, dass ihr Verhalten durch die ihnen innewohnenden Kräfte verstanden werden kann, was man ihre Immanenz nennt. Je weniger Einsicht man in diese Kräfte hatte, umso mehr nahm man äußere Ursachen für alles Wirken an, wobei man in seiner Erklärungsnot auf Vertrautes zurückgriff. Wie Menschen und Tiere etwas bewirken können, so dachte man sich auch die Bewirker in der Natur: Dämonen, Geister und menschenähnliche Wesen wie die Götter. "Alles ist voller Götter" sagte der ionische Naturphilosoph Anaximander (611 bis 545 v. Chr.). Und für das Misslungene machte man dann den Teufel verantwortlich, der wie ein böser Mensch daherkommt.
Diese Weltsicht ist heute in weiten Kreisen keineswegs überholt. Gerade die Religiösen, die sich auf alte Texte stützen, versuchen ihr immer noch Geltung zu verschaffen.
"Aber wir haben doch die Naturwissenschaften, die für Aufklärung sorgen" mag da mancher denken. In der Tat haben sie das Weltbild stark verändert. Aber auch in ihr tobt, wenn auch versteckt und verbrämt, der Gegensatz von Immanenz und Transzendenz der Kräfte. Weil Newton (1643 bis 1727) die Auffassung vertrat, dass "die der Materie eingepflanzte Kraft die Fähigkeit ist, Widerstand zu leisten, durch die jeder Körper von sich aus in seinem Zustand … verharrt" (Newton, Principia, Definition III), wurde er von seinem Konkurrenten Leibniz (1646 bis 1716) am englischen Königshof der Gottlosigkeit bezichtigt, was ein schwerer Vorwurf war, obgleich Newton doch vorsichtshalber auch geschrieben hatte, dass diese Fähigkeit zum Widerstand der Materie "eingepflanzt" wäre, also wohl von Gott gekommen sein müsste, was aber für seine Physik selbst unerheblich war.
Aber auch schon Descartes (1596 bis 1650) hatte es "das Erste Naturgesetz" genannt, dass jeder Körper "soviel an ihm liegt" sich dementsprechend verhält, was ihm letztlich das Leben kostete. Es war und ist also nicht ungefährlich für die Immanenz und damit für eine demokratisch verfasste Freiheit von Kräften einzutreten, die von sich aus reagieren und wirken können. Es ist eben viel bequemer und ungefährlicher, fremde Mächte für alles verantwortlich zu sehen. Man ist dann auch seine eigene Verantwortung los und muss ggf. nicht, wie angedroht, ewig in der Hölle schmoren, was doch wahrlich niemand möchte. So sind im säkularen Bereich heute Teile der Physik das letzte Rückzugsgebiet totalitären Denkens - was jedoch nicht thematisiert, sondern wie selbstverständlich hingenommen wird!
Als die Begründer der Quantenmechanik zeigten, dass die vorhandenen Observablen (Messgrößen) zur Beschreibung eines quantenmechanischen Ereignisses ausreichen, wollte Einstein (1879 bis 1955) das nicht akzeptieren. Nach seinem "gesunden Menschenverstand" müsste die Theorie unvollständig sein, weshalb er die jahrelange (vergebliche) Suche nach den versteckten Parametern inszenierte. Einstein, von seinem Autismus geprägt, lehnte Ursachen, die aus der Sache selber kommen, ab und suchte lieber immer etwas hinter den Dingen, letztlich - wie alle Deterministen - so etwas wie Gottes steuernde Hand. -
Aktueller Höhepunkt dieser Suche nach transzendenten Bewirkern ist die Suche nach dem Higgsboson, bezeichnenderweise auch "Gottesteilchen" genannt, für das man eigens am CERN bei Genf mit vielen Milliarden Dollar eine Weltmaschine gebaut hat. Die mit dem
Nobelpreis ausgezeichnete Idee ist, dass ein ansonsten nicht erfahrbares (transzendentes) Feld, Higgsfeld genannt, die Teilchen an ihrem Ort halten würde und ihnen damit ihre Trägheit verleiht. Bei genügender Energie könnte man jedoch aus dem hypothetischen Higgsfeld einen "Funken" genannt Higgsboson schlagen, den man dann messen könnte. Ja, Funken, die sich bereitwillig interpretieren lassen, gibt es in den haushohen Detektoren im Übermaß.
Zu einem Bericht der Hauszeitschrift der Max-Planck-Gesellschaft in Heft 4.2013 zum Higgsboson habe ich der Redaktion am 14. Febr. 2014 spontan folgende E-Mail gesendet:
"Sehr geehrte Redaktion,
gern habe ich Ihren informativen Bericht über die Teilchenjägerin Sandra Kortner gelesen. Zum Schluss ist mir da Newton eingefallen. In seiner Principia heißt es in Definition III: "Die der Materie eingepflanzte Kraft ist die Fähigkeit Widerstand zu leisten, durch die jeder Körper von sich aus in seinem Zustand der Ruhe oder in dem der gleichförmig-geradlinigen Bewegung verharrt." Wenn man die Immanenz von Kräften der Materie akzeptiert, dann gilt Newtons Definition (mit der man bis heute gut gefahren ist) natürlich auch für alle Teilchen, welche ja die Materie darstellen. Ein Widerstand erzeugendes Higgsfeld wäre dann völlig überflüssig und man hätte sich den ganzen Aufwand einschl. der Nobelpreise sparen können. Ich sehe keinen Grund, die Trägheit von der Materie/den Teilchen abzuspalten, es sei denn, man will mit aller Gewalt sein deterministisches Weltbild beweisen."
Außerdem ist es völlig falsch, von der Masse als einem Teilchen zu sprechen. Die Masse ist ein Maß der Trägheit, die wir erfahren, wenn auf einen Körper eingedrückt wird, also eine vom Menschen gesetzte rein geistige Messgröße, in Normen festgelegt. Aus dem Widerstand eines Körpers gegen die Veränderung seines Lagezustands schließen wir dann auf seine Materiemenge. Die Masse ist also physikalisch ein Zählwert. Was ist an dieser einfachen Tatsache falsch bzw. was gibt es an ihr nicht zu verstehen???" Doch da werde ich wohl noch lange auf eine Antwort warten müssen, weil es bei dieser Alibiforschung gar nicht um Physik, sondern um den "Beweis" für ein immer unzeitgemäßeres Weltbild der Verantwortungslosigkeit geht. Dieses ist die Philosophie verborgener Urängste bei mangelndem Sachverstand, der ihrer nicht Herr wird.
Einstein: "Dieses Bewusstsein [der geistigen Unfreiheit] mildert in wohltuender Weise das leicht lähmende Verantwortungsgefühl und macht, dass wir uns selbst und die anderen nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht lässt." (in Einstein, Albert: Mein Weltbild) Und die Dummheit, eine geistige Messgröße für ein materielles Teilchen zu halten, lächelt man dabei ganz einfach weg.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS / I. Rationale Grundlagen der Physik
in Datei I/B16 "Ausreden ohne Ende":
Das Higgs-Boson oder Warum hat kein Physiker den Mut zu sagen "alle Teilchen haben ihre Trägheit von sich aus?"
Kommentar zum Auffinden des Higgsbosons