museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2015
Sprachvergessenheit als Problem
15.11.2015
Jede Forschung ist sehr teuer geworden. Öffentliche und private Geldgeber erwarten von den Forschern daher baldige und verwertbare Resultate. Da hat es eine ungerichtete Grundlagenforschung schwer, bei Ihnen Verständnis zu finden. Deshalb müssen Wissenschaftler und ihre Organisationen immer wieder um dieses werben. Sie selbst aber übersehen oft, dass aller Forschung die Klärung der Begriffe vorausgehen muss, denn sonst weiß man evtl. gar nicht, von was man redet und worüber man forscht. Der Philosoph Peter Janisch stellte in seinem Buch von 2009 "Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung" fest: "Sprachvergessenheit ist zum Kennzeichen der Naturwissenschaften geworden." Janischs Schlussfolgerung: "Sprachkritik ist die wichtigste Aufgabe, die die theoretische Philosophie heute übernehmen kann." Genau sie ist der Gegenstand meiner Arbeit.
Exemplarisch habe ich da vor allem die Sprache der Physiker im Visier, die sich zumeist keine Mühe geben Sein und Schein, Beobachter und Beobachtetes zu unterscheiden. Trotz der Erfolge der Quantenphysik sind viele Physiker unbewusst immer noch Anhänger eines Materialismus, "dem kritisches Nachdenken über Erkenntnismechanismen Verrat bedeutet" (Jacques Monod in "Zufall und Notwendigkeit"). Und wo das Geistige nicht geachtet wird, achtet man auch nicht auf die Sprache. So ist es bei ihnen üblich geworden, von geistig gesetzten Messgrößen wie von materiellen Objekten zu sprechen.
Das aktuellste Beispiel dafür ist die teure Suche nach dem Masseteilchen Higgsboson am LHC in Cern bei Genf. Dabei ist die "Masse" das Maß der Trägheit, wenn auf ein Objekt eingewirkt wird. Es hätte in der Teilchentheorie völlig genügt mit Newton zu sagen, Körper haben ihre Trägheit "von sich aus", denn Materie ohne Trägheit ist eben keine, weshalb auch Neutrinos sie haben, wie man heute weiß.
Auch Zeit und Raum werden von den Physikern gern als materielle Objekte behandelt, "die beim Urknall entstanden" wären. Doch bei beiden handelt es sich um geistige Ordnungsmuster, die das Gehirn getrennt erfasst. Die Zeit ist dabei die Ordnung des Nacheinanders, die durch das Gedächtnis ermöglicht wird, der Raum ist die Ordnung des Neben-, Über- und Hintereinanders, wobei der räumliche Eindruck durch die Überlagerung der etwas unterschiedlicher Wahrnehmungen der beiden Augen bzw. Ohren entsteht.
Schlimm ist auch, dass metaphorische Redewendungen des Alltags kritiklos in die Wissenschaftssprache übernommen werden. Da wird nicht einmal zwischen unbelebten und belebten Körpern unterschieden. So sieht man auch astronomische Objekte wie Kühe auf der Weide "ruhen" oder "sich bewegen" und zieht daraus Folgerungen, obgleich die Objekte weder Ruhebedürfnisse noch Bewegungsorgane haben, um der Rede einen objektiven Sinn geben zu können. Unbelebtes beharrt einfach von sich aus in seinem Zustand bzw. versucht diesen zu erhalten, wenn es in Wechselwirkung steht. Was gibt es daran nicht zu verstehen?
Ebenso wenig trifft es zu, dass Uhren "die Zeit messen." Uhren geben nur Zeitpunkte der Dauer, so wie Metermaße Messpunkte der Distanz geben. Ein quantitatives Wissen entsteht erst, wenn ein Mensch die abgelesene Maßzahl mit der entsprechenden Messgröße, sowie den Gegenstand und den Sinn des jeweiligen Messens verbindet, ist also ein rein kognitiver Akt. Selbstblind versteht man hier nicht einmal, wer der Messende ist. Und überhaupt ist es für eine messende Wissenschaft fatal ist, wenn das Maß des Messens für den Gegenstand des Messens gehalten wird.
Zudem misst man auch nicht Gegenstände, wie ebenfalls geglaubt wird, sondern immer nur Aspekte von ihnen, die Menschen sich selbst erarbeitet haben. So kann man z.B. eine Distanz messen, ohne dass es eine Sache "Distanz" gibt. Ebenso scheint die Geschwindigkeit eines Objekts immer nur zu dem Fixpunkt auf, den ein Messender (oft genug unbewusst) setzt. Eine Geschwindigkeitsangabe ohne einen solchen ist sinnlos. Weil es sich bei v um eine subjektive Größe handelt, hat sie Newton mit seiner Mathematik eliminiert und die Geschwindigkeitsdifferenz sehr erfolgreich als Ausweis einer objektiv einwirkenden Kraft behandelt (seine Dynamik), was heute leider so wenig verstanden wird.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS / I. Rationale Grundlagen der Physik
A. Wissenschaftstheorie
Datei I/A6 "Messen als Erkenntnisakt"