museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2015
Hier irrte Platon
15.12.2015
Wie Newton gelehrt hatte, verharrt jeder unbelebte Körper, wenn keine Kraft auf ihn einwirkt, von sich aus in dem Zustand, in dem er sich gerade befindet. Das Verharren ist sein objektiver Status, d. h. der Zustand, den er für sich selber hat. Tritt ein Beobachter hinzu, dann setzt er diesen Körper ganz automatisch in Relation zu einem von ihm als solchen angesehenen Fixpunkt, z.B. zur Erdoberfläche, wodurch er ihm, relativ zu diesem Fixpunkt, "ruhend" oder "bewegt" und in diesem Fall im Besitz einer Geschwindigkeit erscheint, wobei mit der "Ruhe" die Geschwindigkeit Null gemeint ist.
Der naive Beobachter, der seine Wahrnehmung für objektiv hält, wird nun vielleicht versuchen, die Längsbewegung der Erde um die Sonne und ihre Geschwindigkeit am Körper selbst zu messen, da er ja die Bewegung für eine objektive Eigenschaft des als "bewegt" angesehenen Körpers hält. Aber was der Mensch auch unternimmt: das Ergebnis wird zwangsläufig immer "negativ" sein, weil der Bewegung - im Gegensatz zur Beschleunigung und Drehung - einfach der Status des Realen fehlt, weshalb sie sich nicht erweisen kann.
Während Platon mit seinem Höhlengleichnis plausibel machen wollte, dass wir nur die Schatten der wahren Ereignisse sehen - und die Ideen sollten das "wirklich Wahre", die "Urbilder" sein -, sehen wir tatsächlich, vor lauter "Ideen", die von den Sinnen registrierten Fakten nicht mehr, z. B. das bloße Verharren eines Körpers in seinem Zustand. In Ermangelung eines objektiven Wissens werden durch unsere kognitiven Strukturen und eingeübten Sehweisen Sinneseindrücke automatisch solange mit vertrauten Eigenschaften, Relationen und Bedeutungen aufgeladen, bis wir glauben, sie zu verstehen.
Wenn Einstein feststellt: "The most unintelligible thing about the world is that it is intelligible", dann wundert er sich zu unrecht über die Verständlichkeit der Welt, sieht doch gerade jeder die Welt so, wie sie sich ihm aufgrund seiner Verständigkeit ergibt. Deshalb war ja Einstein die sich nicht erweisende aber vorausgesetzte Objektivität der Bewegung solange ein Problem, bis er die Idee hatte, sich den Nichterweis mit relativierenden Eigenheiten der Messmittel "zu erklären" - worauf die Welt ihm wieder klar und verständlich war. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie der Mensch sich "seine" Welt an seinen geistigen Horizont anpasst.
Die klinische Forschung hat gezeigt, dass zu jeder externen Wahrnehmung 9- bis 10-mal soviel interne Datenmengen beigesteuert werden (Pöppel in arte). In einem mythologischen Umfeld und der richtigen Einsicht, dass nur Lebendiges zu echter Bewegung fähig ist, kann dann leicht - aus einer von Ost nach West "wandernden" Sonne - ein von Helios gelenkter, von prächtigen geflügelten Rössern über das Firmament gezogener Sonnenwagen werden, so wie Menschen aller Bildungsstufen heute in jeder ungewohnten Erscheinung am abendlichen Himmel, wenn das kritische Tagesbewusstsein schwindet, genauso gleich den "Beweis" für die Anwesenheit Außerirdischer in ihren fliegenden Karossen zu sehen vermeinen - bis auf die zeitgemäßeren PS hat sich also wenig geändert.
Das Bewusstsein hat es also immer schon mit einer von Erwartungen getragenen aneignenden Bewertung von Sinneseindrücken zu tun. Ebenso macht das Gehirn aus Luftschwingungen Laute, aus Lichtstrahlen Grautöne oder Farben, aus Molekülstrukturen Geschmacksrichtungen und Gerüche usw., da es nicht von außen determiniert werden kann, sondern von den eigenen Interpretationen und "Ideen" lebt.
Wenn "etwas wahr-nehmen" heißt, etwas so zu nehmen, wie es in Wahrheit ist und nicht, wie es uns erscheint, dann gehört das von Ideen ungetrübte Wahrnehmen zu den größten Problemen der Menschen, da selbst jene, von denen wir objektive Aussagen erwarten, nämlich die Wissenschaftler, regelmäßig schon an der kaum noch einfacheren Aufgabe scheitern, einen verharrenden Zustand als solchen zu sehen - und das trotz Newtons richtiger und bewährter Vorgabe! - und sie ihn daher heute nur mittels gewaltiger Hilfsannahmen beschreiben können, z.B. durch Einsteins Relativitätstheorie, welche durch Transformationsgleichungen die gemessenen Werte in die erwarteten umrechnet, wobei die subjektive Größe Geschwindigkeit v letztlich herausgerechnet wird, so wie dies schon Newton mit seiner Mathematik tat, der wir die Dynamik verdanken, die immer gelten wird.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS / III. Die Hervorbringung des Menschlichen
Datei III/3 "Das Verstehen des Verstehens"