museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2016
Was ist das Geistige?
15.01.2016
1. Wie aus Körpersprache Begriffssprache wurde
Die Generierung des Geistigen habe ich in WEGE DES DENKENS wie folgt beschrieben: Was bei der Vermenschlichung des Gehirns durch die Sensibilisierung der Hände dank des aufrechten Ganges so zugenommen hat, ist die Fähigkeit, geistig neue Bedeutungen zu generieren und mit ihnen ein immer reicheres Geistesleben zu entwickeln. Die reale und die verstandesmäßige Aneignung der Außenwelt gingen Hand in Hand, was wörtlich zu nehmen ist: mit den Möglichkeiten des differenzierten Greifens (Fingerspitzengefühl) wuchs das Begreifen. Begriffe wurden erarbeitet. Aus dem Fassen wurde das Erfassen, aus dem Bedeuteten, was beim Hindeuten gemeint ist, wurde die Bedeutung. Ebenso wurde aus der aufklärenden Gebärde des Weisens das Ver- und Beweisen. Schließlich entstand durch die Differenzierung der die Körpersprache begleitenden Laute die Begriffssprache. Dieser Prozess zeigt, was das Geistige ausmacht: Das Geistige ist die nach innen verlagerte Auseinandersetzung mit der Welt (Datei III/1a).
2. Das Geistige hat seine eigene Kompetenz
Das Geistige bildet die Außenwelt nicht einfach ab, sondern eignet sich anhand eigener Kriterien so an, dass es mit ihr geistig umgehen kann. So trat z.B. an Stelle langer Aufzählungen vieler einzelner ähnlicher Objekte ökonomisch die Verwendung von Sammelbegriffen, die "Universalien". Universalien existieren nur im Kopf des Menschen, jenseits von wahr und unwahr. Irgendein Beweis ist mit ihrem Vorhandensein noch nicht erbracht - außer den Beweis der Geistigkeit selbst, als eine den Menschen steuernden Kraft.
Zur Kompetenz des Geistes gehört es, Begriffe und Ideen zu bilden, die an seiner Verständigkeit ausgerichtet sind. Mit ihnen formt er Hypothesen, die er an die Außenwelt heranträgt und probiert, in wie weit sie sich bewähren. "Wahr" ist ihm dann, was sich bewährt, z.B. die Bedeutungen "Beute", "Feind", "Freund" oder "Sexualpartner". Wer so vorgeht, bleibt auf der Spur der Wirklichkeit. Das ist oft mühsam. Leichter fällt es da, am Schreibtisch einfach einer Idee nachzuhängen und sich mit ihr ein Bild der Außenwelt zu schaffen. Dieses kann nützlich aber auch gefährlich sein, tritt es doch an die Stelle von Wissen. Ideen, wie zutreffend sie auch seien, lenken das Denken und Handeln der Völker, z.B. die Idee der Freiheit oder die der Weltbeglückung und der Weltherrschaft.
3. Das Geistige will sich mitteilen und erproben
"Das Einzige, dessen es zur Schöpfung einer Sprache bedarf, ist eine hinlänglich große Zahl von Gesprächspartnern." Von intelligenten Gesprächspartnern! Das Geistige will sich mitteilen und erproben, um daran zu wachsen. Um sich mitteilen zu können, muss es sich der Sprache, auch in Form der Körpersprache bedienen. Sprache soll Beutungen transportieren. Ohne Bedeutungen bleibt Sprache leer. Das Gesprochene in Form von Wörtern, Gesten und Zeichen ist so nur das Hilfsmittel des Geistes, dessen Intention verstanden sein will und das auf ein Gegenüber als jemand Verständigen setzt.
Auch die Hervorbringungen des Geistes wie Kunst, Dichtung, Mystik, Religion, Wissenschaft und Philosophie wollen verstanden sein. Diese Schöpfungen sind der immerwährende Versuch der Vermittlung dessen, was Menschen geistig-seelisch, also im Innersten bewegt.
4. Das Geistige ist der Ort der Freiheit
"Die Gedanken sind frei." Und diese Freiheit des Schweifens unabhängig von der Realität ist die Quelle aller geistigen Leistungen in Politik, Literatur und Kunst. Picasso brachte es auf den Punkt: "Die Natur ist da. Mein Bild ist auch da." Damit wies er auf die Autonomie des Kunstwerks hin, die der Autonomie des Lebendigen entspricht, das nach eigenen Gesetzen agiert und reagiert. In dieser Unabhängigkeit aber liegt auch immer die Gefahr, den Bezug zur Realität zu verlieren. So muss es immer wieder Menschen geben, die diesen Bezug herstellen und halten wollen, soll eine Gemeinschaft das Leben meistern können.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS
II. Das Verhältnis von Denken und Sein
Datei II/1a Gadamer und das hermeneutische Problem