museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2016
Emergenz - der Schlüssel zum Verstehen der Welt
15.02.2016
In der Sentenz vom September 2015 "Alles was Sache ist" hatte ich am Schluss das Wort "selbstverständlich" als ein von den Philosophen leider nicht beachtetes Schlüsselwort bezeichnet, denn es gibt kein tieferes und sicheres Wissen, als das, was sich von selbst versteht. Wenn wir das verstehen, werden wir uns als rationale Wesen selbst verständlich, um was es uns doch gehen müsste. Das Schüsselwort zum Verstehen der Welt dagegen ist "Emergenz". Es kommt aus der englischen Metaphysik und bezeichnet das Auftauchen neuer Eigenschaften, in der Regel durch innige Verbindung oder auch durch Trennung von Komponenten, so wie aus der Verbindung weiblicher und männlicher Gene ein Kind entsteht, dessen Aussehen und Charakter nicht vorhergesagt werden kann.
Antike Philosophen nannten diesen Prozess "Mischung", was die moderne Forschung sowohl in der Chemie als auch in der Physik glänzend bestätigt hat. Aus Sauerstoff und Wasserstoff entsteht Wasser, was man den beiden Komponenten vorher nicht ansehen konnte. Bereits wenn sich an eine Atomhülle weitere Elektronen anlegen, ändert sich das Element nach außen hin, was sich als Isotop zu erkennen gibt. Oder der Wasserstoff hat nicht nur ein Proton im Atomkern, sondern zusätzlich noch ein Neutron, was in Verbindung mit Sauerstoff "schweres Wasser" ergibt, das weniger reaktionsfähig als normales Wasser ist und dadurch die Grundlage von Schwerwasserreaktoren wurde.
Für "Emergenz" gibt es nicht einmal eine allgemein anerkannte deutsche Übersetzung, so dass es mich nicht wundert, dass von meinen Texten in Versform auf ZEIT UND SEIN der Text [6] "Emergenz contra Reduktionismus" mit Abstand die meisten Zugriffe aller meiner Texte hat. Mit "Emergenz" ist weder das Auftauchen von Qualitäten aus dem Nichts gemeint, noch von Eigenschaften, die irgendwo schon immer fertig existierten. Emergente Eigenschaften sind Qualitäten, d.h. nach außen gerichtete Wirkungen, die sich erst in einer neuen Verbindung erweisen. Sie existieren somit vorher zwar potenziell - doch ohne dass die einzelnen Emergenzpartner sie besitzen!
Daher ist es nicht möglich, das Emergente allein durch die daran beteiligten Wirkpartner zu erklären, wie dies die Reduktionisten versuchen, weil ja etwas Neues entstanden ist, zum Beispiel Leben. Leben ist eine Organisationsform, welche die Materie regiert mit dem Ziel, sich als Form selbst durchzuhalten, indem es Nachkommen mit gleichen Fähigkeiten produziert, während der Organismus letztlich vergeht.
Auch das Geistige ist ein emergentes Phänomen, indem die durch die Sinne hereinströmenden neutralen Daten nach den Erfordernissen des Lebewesens bewertet werden, die dann Grundlagen seines Verhaltens sind. Ohne eine solche Anverwandlung von Daten an unsere Bedürfnisse bliebe uns die Welt fremd.
Wir gehen mit der Welt immer so um, wie sie sich in unserem Kopf zeigt. Erst wenn es mal nicht funktioniert, versuchen wir die Welt so zu verstehen, wie sie für sich selber ist. Am besten gelingt es dadurch, dass wir unsere Erfahrungsweise in unsere Bewertung mit einbeziehen. Das heißt man, die Rolle des Beobachters beachten, was viele jedoch gar nicht mögen, weil es sie der Illusion ihrer Objektivität beraubt, was gerade Naturwissenschaftler überhaupt nicht schätzen.
Auch die Welt selbst – unser Kosmos – entstand durch Emergenz, "Urknall" besser "Big Bang" genannt, der alle vorherigen emergenten Eigenschaften einer zusammenströmenden Materie löschte, ihr jedoch die kosmische Fliehkraft aber auch durch ihre Verschränkung die Schwerkraft verlieh, die alle Teile zugleich zueinander hinstreben lässt. Der von uns bewohnte und beobachtbare Kosmos ist das getreue Abbild dieser beiden widerstreitenden Kräfte, wobei sich die Schwerkraft im "Kleinen" bei der Bildung von Himmelskörpern, Planetensystemen und Galaxien durchsetzt, bei der Schwer- und Fliehkraft im Gleichgewicht sind, während die kosmische Fliehkraft im Großen für die beschleunigte Expansion des Kosmos sorgt. Eine Annahme eigener Kräfte dafür, wie dunkle Energie, erübrigt sich. Das nenne ich, die Welt - ohne Hilfsannahmen und Rest - so einfach wie möglich zu verstehen.
Helmut Hille
Zum Weiterlesen:
ZEIT UND SEIN
Text [6] "Emergenz contra Reduktionismus"