museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2016

Macht und Ohnmacht der Erinnerung

15.10.2016

Das Focus-Magazin Heft 38/16 hatte als Aufmacher, mit dem auch geworben wurde, den Titel "Die Macht der Erinnerung", weshalb ich das Heft gleich kaufte. Zum Titelthema gab es folgende Artikel:
Trügerisches Gedächtnis
Die "Memory-Hackerin"
Das Hirn lässt sich trainieren.

Es war eher die Ohnmacht des Gedächtnisses, die dargestellt wurde, während von seiner wahren Macht nirgends die Rede war. So konnte ich nicht umhin, der Redaktion zu schreiben. Hier mein Leserbrief vom 20. September 2016:

Sehr geehrte Redaktion!

"Die Macht der Erinnerung" haben Sie weit unter Wert verkauft. Es ist eher die Ohnmacht der Erinnerung, die Sie darstellen. Auch ist es auch nach Ihren eigenen Beiträgen völlig falsch, vom Gehirn als einer Maschine zu sprechen, auch wenn Sie es eine "Illusions-Maschine" nennen. Da haben wohl die Autoren beim Titel der Artikel nichts zu sagen gehabt, und der verantwortliche Redakteur hat sie nicht gelesen, bzw. ihm war der Aufmacher wichtiger. So wird Falschwissen verbreitet.

Natürlich ist das wissenswert, was Sie bringen, und mancher kann daraus eine Lehre ziehen, vor allen, wenn es um den Wert von Zeugenaussagen geht. Aber was das Gedächtnis wirklich leistet und Wert ist, sieht man bei an Demenz erkrankten Personen. Der letzte verständliche Satz der ersten Alzheimer-Patientin soll gewesen sein: "Herr Doktor, ich habe mich verloren." Im Gedächtnis ist unser Menschsein aufgehoben – und man kann es wieder verlieren. Walter Jens war da ein bekanntes Beispiel. Der Wert des Gedächtnisses beginnt aber bereits damit, dass es die durch die Sinne aufgenommenen Einzelerlebnisse miteinander verbindet, sonst hätten wir nur momentane Sinneseindrücke ohne Zusammenhang. Wir wüssten dann nichts Zeitliches: es gäbe keine Zeit, keine Bewegung, keine Sprache, keine Melodie! Das ist die wahre Macht des Gedächtnisses, die nicht überschätzt werden kann! Doch kein Wort bei Ihnen.

Die 60 Personen mit "Super Memory" werden leicht von Savants übertroffen, die das nichteinmal üben müssen, wie Kim Peek aus Salt Lake City, der inzwischen leider verstorben ist. Er kannte 12 000 Bücher auswendig, Wort für Wort. Daneben kannte er  unzählige Geschichtsdaten, Busverbindungen, das Straßennetz der USA und Kanada, das Fernsehprogramm, die Telefonvorwahlen und die Postleitzahlen.* Ich füge Ihnen noch meine Sentenz 70 über zwei weibliche eineiige Autisten bei, von "Zwei Menschen, die die Welt noch nie gesehen hat". Sie wurden lange als behindert eingestuft. Erst als sie 39 Jahre alt waren, wurde die medizinische Diagnose "Autisten mit Savantsyndrom" gestellt. Man brachte sie zu Darold Treffert in Wisconsin, dem führenden Savantforscher in den USA,

der auch Berater des Films "Rain Man" mit Dustin Hoffman war, der die Diagnose bestätigte. "Die Savants stellen ein einmaliges Fenster ins menschliche Gehirn dar. Solange wir das Savantsyndrom nicht verstehen, werden wir niemals verstehen, wie unser Gehirn funktioniert" sagte Treffert. Heute denkt man, dass Störungen der für die Kommunikation zuständigen linken Gehirnhälfte durch die rechte Hälfte, in der u.a. das Gedächtnis verortet ist, teilweise kompensiert werden – aber eben vor allem mit rein faktischen Gedächtnisinhalten, während die mangelnde soziale Kompetenz bleibt. Heute schwärmt man aber eher für stupides Faktenwissen, das ein PC viel besser erledigen kann.

Das schlechte Gedächtnis ist also auch ein Produkt der Evolution, das reines Faktenwissen zugunsten der für das Überleben wichtigen sozialen Kompetenz unterdrückt. Savants sind oft (aber nicht alle) im täglichen Leben hilflos, können sich z.B. nicht die Zähne putzen oder die Schuhe binden. Schreiben Sie doch mal etwas über Autisten und Savants! Anregungen finden Sie in meiner Website WEGE DES DENKENS vor allem in der Datei (II/15). Im Anhang der Startseite finden Sie folgenden Ausspruch von mir, der zu Ihren Beiträgen gepasst hätte:

Die Götter im Olymp waren selig,
weil sie über die Illusionsfähigkeit des Gehirns Bescheid wussten.
Sie genossen seine Göttliche Komödie,
während wir Menschen ganz versessen darauf sind, sie zu spielen.

"Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten." (Albert Camus)
Wer die Prämissen seiner Urteile nicht kennt, bleibt deren Gefangener.
Aber soviel Aufklärung darf wohl nicht sein.

Helmut Hille

Nachtrag: Von der zuständigen Redakteurin des FOCUS erhielt ich schon wenige Tage später einen sehr freundlichen Brief, die meinen Leserbrief "äußerst interessant" fand und mir ihre Titelfindung erläuterte. Bemerkenswert ist auch, dass ZDF und 3sat einige Tage später zeitgleich zur besten Sendezeit genau zum gleichen Thema Beiträge brachten. Am 30. September wurde nun auch noch im SWR3 im Rahmen des "Nachtcafes" zum Thema diskutiert. Dies ist wohl ein Beispiel dafür, wie unsere Medienlandschaft koordiniert wird. Etwas boshaft fragte ich mich, ob wohl mit der gezeigten Ohnmacht des Gedächtnisses "Gedächtnislücken" eines Prominenten plausibel gemacht und entschuldigt werden sollen.

Zum Weiterlesen:
Die genannte Datei (II/15) auf WEGE DES DENKENS
bzw. die genannte Sentenz von 2010 "Zwei Menschen, die die Welt noch nie gesehen hat".


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