museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2017

Erinnerung und Wahrheit

15.04.0217

Erinnerungen sind normalerweise etwas Flüchtiges, das immer wieder neu aufgerufen werden muss und sich dabei verändern kann, wie Forschungen belegen. Der Zeuge vor Gericht, der vom Richter aufgefordert ist, "die Wahrheit und nichts als die Wahrheit" zu sagen, kann auch bei besten Willen sich irren. Oft soll er sich an Ereignisse erinnern, die er nur flüchtig wahrgenommen hatte und die für ihn ohne Bedeutung waren, so dass er nicht veranlasst war, sich mit ihnen intensiv auseinander zu setzen. So bleibt vieles Wissen vage.

Die Situation vor Gericht zeigt, wie abhängig unser Wissen von unserem Gedächtnis ist. Und wer infolge von Demenz sein Gedächtnis ganz verliert, verliert auch jede soziale Fähigkeit, die ihn mit anderen verbindet. Für ihn gibt es keine Wahrheiten mehr. Die Wahrheit ist also etwas Relatives, abhängig vom Wissen, auf das wir geistig Zugriff haben. Niemand wird also etwas "für wahr" halten können, von dem er nichts weiß, ohne dass der Wahrheitsbegriff jeden Sinn verliert.

Damit erledigt sich die Frage, was Wahrheit ist in dem Sinne, dass es außerhalb unseres Wissens eine Wahrheitsinstanz gäbe, die unabhängig vom Wissen existiere. Natürlich versucht das Gericht sich auch auf Fakten wie Fotos und Fingerabdrücke zu stützen, die aber ebenfalls der Interpretation unterliegen und damit vom Wissen abhängig sind. Der Sachverständige vor Gericht ist deshalb nicht im Besitz einer absoluten Wahrheit, sondern  er kann bestenfalls nur - und dass erwartet man von ihm - nach dem letzten Stand der Erkenntnis urteilen. Das zu verstehen, gehört zur Weisheit des Gerichts.

Der Weise weis eben, dass er im absoluten Sinne nichts weiß, dass er bei sorgfältiger Abwägung seiner Kenntnisse nur ein ihm bestmögliches Urteil fällen kann. In Anbetracht dieser unaufhebbaren Situation kennt das Gerichtswesen weitere Instanzen, die Urteile überprüfen können. Die Jurisprudenz ist die älteste Wissenschaft, weil sie der Spiegel menschlicher Erinnerungsmöglichkeit ist, die schon immer gefordert war. Die Griechen unterschieden dabei zwischen

den Göttinnen Themis und Dike. Themis ist die Göttin der Rechtsordnung (das positive Recht), Dike die Göttin der Rechtsprinzipien, nach denen geurteilt wird, z.B. wo eben auch gilt "im Zweifel für den Angeklagten."

Wenn es das Ideal ist, nur nach besten Wissen und Gewissen zu urteilen, wofür Justitia mit verbundenen Augen steht, mit der Waagschale in der Hand, alles rein geistig gegeneinander abwägend, dann zeigt sie uns die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Urteilsvermögen, weshalb wir immer Weisheit gelten lassen sollten, wollen wir gerecht sein.

Das sollten auch stets die Philosophen bedenken, wenn sie das Verhältnis von Sprache und Welt zu klären versuchen. Es ist zwar richtig, dass es da einen Klärungsbedarf gibt. Doch wie der Klagenfurter Philosoph Josef Mitterer zeigt, gibt es keine Dichotomie (Zweiteilung) von Sprache-Welt, Beschreibung-Objekt, Aussage-Gegenstand usw., sondern dass es eine Illusion oder Manipulation ist, dass man sich beim Sprechen auf eine Welt oder auf Objekte außerhalb unserer Sprache beziehen könnte. Das Objekt des Sprechens ist immer das bisher Gesprochene und nur auf das kann rekurriert (zurückgegriffen) werden. "Wir sind mithin in der Situation, in der wir das Objekt der Beschreibung von der Beschreibung des Objekts nicht unterscheiden können." (Walter Grasnick in seiner Buchbesprechung zu Mitterer) Goethe dazu: "Der Gedanke lässt sich nicht vom Gedachten trennen." Oder wie ich verallgemeinernd ergänze: wir können uns immer nur auf das beziehen, über was wir geistig als Wissen verfügen. Oder wir sollten schweigen, wie Wittgenstein sagte.

Helmut Hille

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS
II. Das Verhältnis von Denken und Sein
(3) Buchbesprechung Mitterer/Das Jenseits der Philosophie

http://www.helmut-hille.de/mitterer.html

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