museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2017

Stimmen des Seins

15.12.2017

Der Begriff des Seins hat es schwer, verstanden zu werden. Das liegt daran, dass die unbewusste Intelligenz des Menschen immer nach Ursachen und Gründen für etwas sucht, um die Sache zu verstehen, am besten erkennbar an der penetranten Warumfragerei der Kinder. Sie ist also angeboren, gehört damit zur unbewussten Intelligenz des Menschen.

Den unendlichen Regress der automatischen Warum-Fragerei kann man durchbrechen und zu einer Letztbegründung kommen, indem man sich mit Vernunft klar macht: Sein kann nicht begründet sondern nur akzeptiert werden. Eine Begründung des Seins hieße es zu etwas anderen unterzuordnen. Es wäre dann nicht mehr ursprünglich. Doch die Welt ist einfach da und entfaltet sich nach ihren Möglichkeiten. Oder wie Parmenides (um 540 – 480 v. Chr.) uns schon lehrte: "Sein ist!" - ohne Wenn und Aber. Sein kann weder Entstehen noch vergehen, auch wenn es sich nach einen ihm immanenten schöpferischen Prinzip der Mischung immer wieder wandelt.

Eine solche Sicht nenne ich ein Seinsverständnis. Seinsverständnis nimmt und akzeptiert das Sein in seinem Sosein ohne jedes Warum. Wenn Martin Heidegger in seiner berühmten Antrittsvorlesung von 1929 "Was ist Metaphysik?" in der Aula der Universität Freiburg i. Br. scheinbar gegen die "Seinsvergessenheit" ankämpfend am Schluss fragte: "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" zeigt dies, dass er die Gründe der ewigen Warumfragerei noch nicht durchschaut hatte, weshalb er den Begriff des Seins verfehlte. Dies wohl irgendwie merkend hat er zu den über 400 Seiten des "Ersten Teils" seiner berühmten Arbeit "Sein und Zeit" keine Fortsetzung geschrieben und später den Begriff des Seins mehrmals abgewandelt. Und was Zeit ist wusste er auch nicht, wie er selbst in einem von der Wochenzeitung "Die Zeit" anlässlich eines Jubiläums bestelltem Grußwort zum Thema "Zeit" schrieb. Je weniger eine Sache verstanden wird, umso dicker werden die Bücher über sie.

Ganz anders der Philosoph und Mystiker Meister Eckhart (um 1260 - 1327) dem es immer um Gott und das Sein der Menschen ging ohne "Warum": "Ebenso wie Gott ohne Warum wirkt und kein Warum hat, in derselben Weise, wie Gott wirkt, so wirkt auch der Gerechte ohne Warum. Und ebenso wie das Leben um seiner selbst willen lebt und kein Warum sucht, um deswillen es lebe, so hat auch der Gerechte kein

Warum, um deswillen er etwas tue. Fragte man einen wahrhaften Menschen, einen, der aus seinem eigenen Grunde wirkt: "Warum wirkst du deine Werke?" sollte er recht antworten, er würde nichts anderes sprechen, als: "Ich wirke, um zu wirken." Der Mensch soll setzen auf ein Sein: "Nicht gedenke Heiligkeit zu setzen auf ein Tun; man soll Heiligkeit setzen auf ein Sein. Denn die Werke heiligen uns nicht, sondern wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig die Werke immer seien, sie heiligen uns durchaus nicht, sofern sie Werke sind, vielmehr: sofern wir wahres Sein und Wesen haben, soweit heiligen wir all unser Tun." Und indem er das lehrte, gab er dem Sein eine Stimme wie zuvor schon Parmenides mit seinem Lehrgedicht "Über das Sein." Im fernen China war es zu etwa gleicher Zeit Laotse (um 604 - 520 v. Chr.), der einen Begriff des Seins zu vermitteln suchte (aus dem 6. Spruch): "Des Ewig-Mütterlichen Gestaltungsgabe ist der Ursprung von Himmel und Erde. Stetig gebärend bedarf es nie der Befruchtung."

Sein existiert nur als Gegenwart und ist damit zeitlos, sind Vergangenheit und Zukunft doch rein menschliche Kategorien. Auch das gilt es zu durchschauen. Zeitliches wird uns durch das Gedächtnis geschenkt, das abfolgende Ereignisse in Zusammenhang bringt, was unser Erleben und Wissen von Bewegung, Sprache und Melodien erst ermöglicht. In der Sprache der Theologie heißt es dazu bei Meister Eckhart: "Bei Gott sind alle Dinge in einem ewigen Nun. Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so empfängt, so nimmt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzung bist."

So sollten auch wir im Denken und Tun unser Menschsein vollenden als die Stimme des Seins. Durch den Menschen ist das Sein sehend geworden und ringt in ihm um sein Verständnis. Dies zu begreifen und es zu leben sollten wir als Menschheit im Ganzen als unsere Verpflichtung sehen, verbunden mit einem respektvollen Umgang mit allem Seienden, denn wir sind ein Teil von ihm und auf es angewiesen.

Helmut Hille

Zum Weiterlesen:
WEGE DES DENKENS
II. Philosophie und Hirnforschung
(II/11) Meister Eckhart und das Sein an sich

http://www.helmut-hille.de/eckhart.html

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