museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philsosophische Sentenzen 2019

Philosophie im Blindflug

Laotse (um ca. 500 v.d.Z.): "Andere erkennen ist klug. Sich selbst zu erkennen ist weise."

Solange auch Philosophen nichts vom Gehirn und seiner Arbeitsweise wissen, sind sie auf Beobachtungen des Sprechens und Verhaltens angewiesen. Plato (429 – 349 v.d.Z.) erkannte immerhin, dass es ein Problem zwischen Schein und Sein gibt. Für ihn waren die Ideen das wahre Sein. Wie ist eine solche, heute uns eher abstrus erscheinende Auffassung möglich, sind doch Ideen etwas rein Geistiges? Ideen zu haben und in Ideen zu denken zeichnet fortgeschrittenes Denken aus. Sie als von außen gegeben erscheinen zu lassen, hat mit der Taktik des Gehirns zu tun, sich zu verstecken, um ungestört schnell urteilen zu können, was für das Überleben in Gefahren wichtig ist. Das muss man vom Gehirn wissen, um darauf nicht hereinzufallen.

Zur großen Rolle des Denkens hatte sich aber schon Parmenides, ein Zeitgenosse Laotses, in seinem Lehrgedicht über das Sein kritische Gedanken gemacht. Er sah das Sein als Eines an, das da ewig existiert, während die Gegensätze wie Licht und Nacht, Entstehen und Vergehen, leicht und schwer nur menschliche Setzungen wären. Am Ende seiner "Himmelfahrt" zur allwissenden Göttin lässt er diese sagen: "Diese (antagonistische) Weltordnung und ihre Entfaltung künde ich dir in der Scheinhaftigkeit ihres Wesens, so dass keines Menschen Meinung dich je überholen wird." Die klassische antike Philosophie mit Plato und Aristoteles hatte jedoch die Lehre der Eleaten in Unteritalien, zu denen Parmenides gehörte, nicht verstanden. Selbst diese Klassiker blieben im Blindflug.

Trotzdem blitzen da und dort kurze Einsichten in die Rolle des Denkens und damit des Gehirns auf, die den Menschen jedoch als "mystisch" erschienen. So heißt z.B. bei Meister Eckhart (um 1260 bis 1327): "Die Meister lehren, eine andere sei die Kraft, vermöge deren das Auge sieht, eine andere die Kraft, vermöge deren es erkennt, was es sieht", was die Rolle des Gehirns anspricht. Wir erkennen nur, was im Kopf gespeichert ist, weshalb wir so viel lernen müssen. Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799), Mathematiker und erster deutscher Professor für Experimentalphysik im Zeitalter der Aufklärung, die Eigenständigkeit des Unbewussten ansprechend: "Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt." Ich bin überzeugt, dass all die Ingenien in Kunst und Wissenschaft sich vor allem auf ihr Unbewusstes verlassen, dass Ideen, Melodien und Bilder von selbst weiter und weiter denkt.

Ende des vorigen Jahrhunderts griff der Klagenfurter Philosoph Josef Mitterer die Scheinhaftigkeit der antagonistischen Weltordnung wieder auf und zeigte, dass die Unterscheidung von Sprache und Welt, Beschreibung und Objekt, Aussage und Gegenstand usw. und damit die Berufung auf den zweiten Gegenstand der Dichotomie eine Illusion ist und/oder ein Mittel, den eigenen Standpunkt unangreifbar zu machen. Doch die Wahrheit einer Aussage ist ihm immer nur der letzte Stand der Erkenntnis, der mit der Überzeugung verbunden ist, das jeweilige Wissen adäquat ausgedrückt zu haben. Für Mitterer ist die Wahrheit ebenso persönlich wie der Irrtum und es ist nicht möglich, die Verantwortung für sie auf andere Instanzen zu überwälzen. Denn die Welt, mit der wir gedanklich umgehen, existiert nur in unserem Kopf. Die Beschreibung des Objekts ist vom Objekt der Beschreibung nicht zu unterscheiden.

Ein Vertreter der alten Denkschule ist Jürgen Habermas (*1929), der in seinem 2004 neu herausgegebenen Buch "Wahrheit und Rechtfertigung" der abhanden gekommenen Wahrheit seitenweise hinterher weint und am Ende glaubt, doch noch eine Wahrheitskriterium gefunden zu haben. "Allein die Verschränkung von zwei verschiedenen pragmatischen Rollen, die der janusgesichtige Wahrheitsbegriff in Handlungs-Zusammenhängen und Diskursen spielt kann erklären, warum eine in unserem Kontext gelungene Rechtfertigung für die kontextunabhängige Wahrheit der gerechtfertigten Meinung spricht." Die "kontextunabhängige Wahrheit" würde sich also in gelungenen Handlungen und Rechtfertigungen zeigen. Doch eine dann zur Wahrheit erklärte Meinung lädt die Menschen in ihrem Machtwillen geradezu ein, keine andere Meinung und Praxis zu dulden. Trotz aller hohen Auszeichnungen für sein Werk ist Habermas Buch für mich der wortreiche Abgesang einer alten Illusion, die viel Schaden angerichtet hat.

Erst die Neurophilosophie ist dank der Hirnforschung in der Lage, das Verhältnis von Denken und Sein zu klären. Wenn wir wissen, warum wir so denken wie wir denken, sind wir nicht mehr die Knechte sondern die Herren unserer Meinungen. Bereits die Existenz der zwei Hirnhälften mit unterschiedlichen Funktionen zeigt, dass wir selbstreferentielle Wesen sind. Die linke Hirnhälfte versucht das differenziert verständlich zu formulieren, was als Wissen in der rechten Hälfte kompakt gespeichert ist. Wenn wir das Gefühl haben, dass das explizit Gesagte oder Geschriebene oder bildhaft Dargestellte mit dem implizit Gewussten übereinstimmt, empfinden wir das als "wahr". Das ist die Übereinstimmung, auf die es uns bei der Suche nach der Wahrheit ankommt. Aber das Gehirn, das bei seiner Arbeit nicht gestört werden will, lässt uns eine außerpersönliche Wahrheit-Instanz vermuten, die es jedoch nicht gibt. Will Philosophie weiterhin die Suche nach der Weisheit sein, wird sie um die bereits von Laotse angemahnte Weisheit der Selbsterkenntnis nicht herumkommen. Heute haben wir die Mittel dazu. Aber haben wir auch den Mut zur Verantwortung für unser Reden und Tun - eine Tugend, die immer wichtiger wird?

Helmut Hille

Zum Weiterlesen:
ZEIT UND SEIN
Texte in Versform
Gehirn und KI

http://www.helmut-hille-philosophie.de/gehirn.html

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