museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2003

Wieweit können wir der Vernunft trauen?

15.07.2003

Mit dem Titel von Kants berühmtester Schrift, der "Kritik der reinen Vernunft" (1781), hatte ich schon immer Probleme, denn ich fragte mich unwillkürlich,
1. was denn an der Vernunft kritisiert werden könne, wenn sie nicht nur "sauber" sondern sogar "rein" ist,
2. ob Kant denn übervernünftig war, um auch noch über die "reine" Vernunft richten zu können.
Gemeint hatte Kant, dass es keine wahren Aussagen über die Welt aus reiner Vernunft geben könne, und er versuchte dies zu beweisen. Dabei sah er aber ganz klar, dass es im Verstande von vornherein, vor aller Erfahrung – a priori, wie er sagte – Verstandskategorien und Anschauungsformen gibt, hätte der Verstand doch sonst kein Werkzeug, mit dem er arbeiten könne.

Daher sind absolute Wahrheiten dem Menschen verschlossen, weil er nur anhand der Werkzeuge des Verstandes urteilen kann, die er aber immer schon vorfindet und die deshalb nicht in seiner Macht stehen. Wie sieht es nun aber mit vernünftigen Wahrheiten aus? Ist es nicht an der Zeit, den Ausdruck "vernünftige Wahrheiten" konsensfähig zu machen und so auch für mehr Toleranz zu sorgen, was angesichts eines wachsenden Fundamentalismus dringend geboten ist?

Beispielsweise sagte Demokrit schon in der Antike aus reiner Vernunft, dass die Welt aus kleinsten unteilbaren Teilchen, den Atomen, bestehen muss, denn wenn alle Materie endlos teilbar wäre, bestünde sie letztlich aus Nichts, was offensichtlich unsinnig ist.

Der Erkenntnistheoretiker Ernst Mach (1838-1916) dagegen, der die Vernunft verachtete, leugnete die Existenz von Atomen mit dem Argument, man könne sie nicht sehen. Heute wissen wir, wer der klügere war, aber der Vernunftskeptizismus bei Physiker ist geblieben. Sie wollen mehr dem Augenschein trauen – aber der ist eben nur ein Schein und kein Sein. Seit dem Chemiker Hahn kann man zwar Atome spalten, aber letztlich trifft man wieder auf Teilchen, die nicht weiter zerlegt werden können. Auch die Energie hat eine Mindestgröße, das Plancksche Wirkungsquantum. An der Atomidee zeigt sich, wie leistungsfähig die reine Vernunft ist, wenn sie das durch sich selbst Verständliche bedenkt und ihren Überlegungen zu Grunde legt.

Doch so nützlich wie erfolgreich die Atomidee war und ist, man kann trotzdem nicht die All-Aussage treffen "ALLES besteht aus kleinsten Teilchen", weil es noch die Feldkräfte gibt, z.B. das Gravitationsfeld.

Die Versuche, mit Hilfe von eigens erfundenen "Gravitonen" es zu atomisieren, haben noch zu keinem brauchbaren Ergebnis geführt. Selbstverständliche, sorgfältig abgeklärte Vernunftideen, auch Prinzipien, Axiome oder Urteilsprämissen genannt, sind ja als Vernunftideen nicht dogmatisch, sondern sie tragen in sich selbst die Aufforderung, ihre Grenzen zu suchen. Ist eine Grenze gefunden, hier die Erfahrung der Gravitation, dann ist eben eine weitere Idee fällig, um mit der Erfahrung angemessen umgehen zu können. Die wirkliche Vernunft stört das nicht, weiß sie doch, dass die Realität sowieso alle Denkbarkeit übersteigt. Nur jene, die glauben der menschliche Verstand wäre dazu berufen (aber besonders natürlich der ihre), absolute Wahrheiten zu erkennen, haben damit ein Problem.

Doch als Vernunftwesen können wir bestenfalls vernünftige Wahrheiten erkennen und mehr als vernünftige Wahrheiten zu erwarten wäre unvernünftig. Aber selbst um diese muss man ständig ringen, auch in der Wissenschaft. Alexander von Humboldt hat Wissenschaft wie folgt definiert: "produktiver unendlicher Zweifel." Goethe formulierte: es gelte "das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Das ist es, was einem Vernunftwesen zur Zierde gereicht.  

 

 

Zum Weiterlesen:
Helmut Hille: Rationale Theorien als Kriteriengeber, auf  

 

http://www.helmut-hille.de/diemetho.html

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