museumsart Kolumne
Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2003
Über das Selbst-Verständliche I
15.09.2003
Das Selbst-Verständliche ist das dem Verstand unmittelbar, d.h. ohne Rückgriff auf die Erfahrung, Verständliche und kann dementsprechend von jedermann zu jeder Zeit geprüft und nachvollzogen werden, wie z.B. dass 2 mal 2 = 4 ist. Grundlegende Selbst-Verständlichkeiten, auch Prinzipien oder Grund-Sätze genannt, sind z.B. die Grund-Sätze der Geometrie und Mathematik und die sich aus ihnen ergebenden Folgesätze und mit ihnen das obige Resultat.
Aber auch die Newtonschen Axiome der Mechanik sind selbst-verständlich, ist doch einzig die Annahme des Erhalts eines physikalischen Zustandes, wenn keine Kraft auf ihn einwirkt, nicht willkürlich und von selbst verständlich, während jede Änderung des Zustands einer Sache einer Erklärung – in der Mechanik einer Kraft – bedarf, die es daher zu suchen gilt. Aber es ist ebenso klar, dass Selbst-Verständliches keine weitere Erklärung braucht, wäre es doch sonst nicht mehr selbst-verständlich. Deshalb muss man sagen: Wer immer Selbst-Verständliches erklären oder erklärt haben will, hat keinen Verstand. Denn wer schon Selbst-Verständliches nicht versteht – was will er dann verstehen? Aber mit Selbst-Verständlichen beginnend können wir hoffen, verständigen Mitmenschen uns verständlich zu machen. Ja, letztlich ist das Selbst-Verständliche der Schlüssel aller Erkenntnis, sowohl über die Welt, als auch über uns selbst als geistige Wesen.
Zur Rechtfertigung von Parmenides Lehrgedicht "Über das Sein" spricht Plutarch (45-120) von den "zwei Naturen des Wissens": dem logisch, anhand von Prinzipien erkennbaren Wissen, "mit sich selbst identisch und bleibend im Sein", und dem meinbaren Wissen, das auf sinnlicher Wahrnehmung beruht, als "etwas Unzuverlässiges, in vielerart Zuständen und Wandlungen Befindliches", und das sich zudem "jedem andern gegenüber anders darstellt", sind doch die an
der eigenen Verständigkeit ausgerichteten Urteile über sinnlich erfahrbare Dinge das den Menschen spontan Gegebene.
Sicherheit des Wissens und damit Intersubjektivität kann daher nur auf der Grundlage selbst-verständlicher logischer Annahmen als Urteilskriterien erreicht werden, mit deren Hilfe wir verstehen. Die wahre Intersubjektivität beruht also nicht auf Einigungen über Sachverhalte, die ja die Einigkeit über Irrtümer nicht ausschließt, sondern auf Einsichten, die Sachverhalte zwingend machen, wie wir z.B. anhand der Atomidee gesehen haben.
Der Mensch ist immer noch auf der Suche nach dem, was sein geistiges Menschsein ausmacht, was geistig seine Chancen und was seine Grenzen sind. Das spezifisch Menschliche ist nicht etwas Fertiges, lediglich Verborgenes, das nur noch aufgedeckt werden muss, sondern etwas, das, wie die menschliche Würde, durch die eigene Arbeit am Menschsein erst zu bilden ist, in einem weiteren selbstschöpferischen Prozess der Evolution. Ein solcher Prozess ist nicht ohne Schmerzen, muss doch jeder die Verantwortung für sein Denken und Tun selbst übernehmen und sich von bequemen Annahmen und wohlfeilen Illusionen lösen. Begreifend was das Selbst-Verständliche ist und wie sehr wir (als geistige Wesen) seiner bedürfen und uns in ihm finden, werden wir uns selbst verständlich.
Zum Weiterlesen:
"Das Verstehen des Verstehens" auf