museumsart Kolumne

Helmut Hille
Philosophische Sentenzen 2004

Zehn Finger - Motor des Geistes

15.05.2004

Der Vormensch Australopithecus, der vor 2 bis 3 Millionen Jahren in Afrika lebte, war eine affenähnliche Kreatur mit kleinem Hirn, die aufrecht ging. Daher ist der aufrechte Gang kein "Produkt" des Menschseins, sondern eine seiner Voraussetzungen. Der aufrechte Gang ermöglichte die weitere Sensibilisierung der bereits existierenden Greifhand. Die Entwicklung des sprichwörtlichen Fingerspitzengefühls, u.a. durch Werkzeuggebrauch (Arbeit), machte die Hand zum zielführenden Organ des Verstehens. Die eingefahrene Verbindung von Verstand und Hand wird an der unwillkürlichen Gestik beim Sprechen erkennbar. Gehörlose können sich heute mit ihrer Hilfe detailliert verständigen, Blinde mit Hilfe ihrer Finger eine Spezialschrift "lesen". Auch das schnelle Schreiben Geübter im Zehnfingersystem auf einer Tastatur mit bis zu über 400 Anschlägen pro Minute ohne Hilfe der Augen, dokumentiert die innige Verbindung von Hand und Verstand/Geist.

In der Geschichte der Hominiden und ihrer Vorläufer wurde die Hand das Organ des Handelns. Durch sie bekam der Vormensch Gelegenheit, mit seinen Fingern handelnd zu begreifen und, mit Hand- und Fingerzeichen beginnend, sich explizit zu verständigen. Durch die damit verbundene weitere Ausformung der linken Hirnhälfte, mit der in der Regel die Rechtshändigkeit einhergeht, begann sich der menschliche Teil des Verstandes zu bilden. Was bei der Vermenschlichung des Gehirns durch die Sensibilisierung der Hände so zugenommen hat, ist die Fähigkeit, Bedeutungen zu generieren und mit ihnen ein immer reicheres Geistesleben zu entwickeln.

Die reale und die verstandesmäßige Aneignung der Außenwelt gingen Hand in Hand: mit den Möglichkeiten des Greifens wuchs das Begreifen, aus dem Fassen wurde das Erfassen, aus der aufklärenden Gebärde des Deutens und Weisens das Beweisen. Durch die Differenzierung der die Körpersprache begleitenden Laute entwickelte sich die Begriffssprache. Dieser Prozess zeigt, was das Geistige ausmacht: Das Geistige ist die nach innen verlagerte Auseinandersetzung mit der Welt – unabhängig von ihren Gefahren (doch mit eigenen Risiken). Sprachlicher Ausdruck unterstützt und ersetzt schließlich die Gestik, weil er ökonomischer ist. Dass daran in beiden Fällen die gleichen Hirnareale beteiligt sind, kann nicht überraschen. Dabei wirkt die artikulierte Sprache positiv auf das Vermögen zu detaillierten Aussage zurück, die ja eine Auseinandersetzung mit dem gefühlsmäßig Gemeinten ist.

Der Philosoph arbeitet hierbei am Begriff, der Dichter an der Sprache. Während der Philosoph dem Leser nicht ersparen kann, an seiner Arbeit teilzunehmen, erhebt der Dichter den Leser aus den Mühen seines Tagwerks, weshalb er mehr geschätzt wird. Aber wir brauchen beide, soll menschlicher Geist sich entwickeln.

 

Zum Weiterlesen:
"Die Generierung des Geistigen" auf

 

http://www.helmut-hille.de/pag24.html

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